- Das BMF öffnet nun wieder regelmäßig seine Türen für Besucherinnen und Besucher von Veranstaltungen zu einer Vielzahl von Themen des Ressorts.
- Mit Margot Friedländer konnten Schülerinnen und Schüler von acht Berliner und Brandenburger Schulen am 21. März 2023 über die Verantwortung für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie sprechen.
- Geschichte und Gegenwart müssen bewusst reflektiert werden, um Zukunft zu gestalten. Das BMF trägt diese Botschaft an jüngere Generationen weiter. Denn was war, darf nie wieder geschehen.
- Die Veranstaltungsreihe „Verantwortung weitertragen“ fördert aktiv die Erinnerung daran, was passieren kann, wenn sich zu wenige Bürgerinnen und Bürger für die Demokratie einsetzen.
Einleitung
„Seid Menschen!“ Diesen eindringlichen Appell richtete die Holocaust-Überlebende Dr. h.c. Margot Friedländer am 21. März 2023 an die rund 200 Gäste im Matthias-Erzberger-Saal des BMF, darunter viele Schülerinnen, Schüler und Studierende. „Besonders junge Menschen müssen sich darüber klar werden, was in Deutschland geschehen ist. Sie haben ihr Leben noch vor sich, sie müssen begreifen, was es heißt, Mensch zu sein. Damit so etwas Unmenschliches nie wieder passiert.“
Margot Friedländer setzt sich unablässig für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie ein – und das im Alter von inzwischen 101 Jahren. „Das Gefühl, etwas mit jungen Menschen machen zu können, gibt mir Leben“, sagt sie selbst. Sie ist die Einzige aus ihrer Familie, die den Holocaust überlebt hat.
Kurz bevor ihre Mutter 1943 mit ihren Kindern aus Deutschland fliehen will, wird Margots jüngerer Bruder von der Gestapo verhaftet. Ihre Mutter stellt sich der Polizei, um bei ihrem Sohn zu sein. Die damals 21-jährige Margot bleibt allein zurück und entscheidet sich, unterzutauchen. Eindrucksvoll schildert sie, wie sie sich ihre Haare tizianrot färben ließ, um nicht als Jüdin erkannt zu werden. Doch 1944 wird sie verraten und nach Theresienstadt deportiert.

Über ihr Leben hat Margot Friedländer das Buch „Versuche, Dein Leben zu machen“ geschrieben. Diese Nachricht ihrer Mutter war beinahe das Einzige, was der jungen Berlinerin von ihrer Familie blieb. Aber es war auch der Auftrag an sie, zu leben. Margot Friedländer befolgte dieses Vermächtnis. „Ich hatte das Glück, in Theresienstadt Adolf Friedländer an meiner Seite zu haben, der mich nach der Befreiung fragte, ob ich mit ihm in Amerika ein neues Leben beginnen wolle. Da wurde mir klar: So viele Millionen Menschen hatten ihr Leben verloren. Ich hatte noch eines vor mir.“ Erst im Jahr 2010, im Alter von 88 Jahren, kehrte sie wieder „for good“ in ihre Heimatstadt Berlin zurück. „Ich bin gekommen, um euch die Hand zu reichen.“
Eine Idee geboren im Gedenkjahr: 70 Jahre Luxemburger Abkommen
Im BMF las Margot Friedländer am 21. März 2023 aus ihrer Autobiografie zahlreiche zutiefst bewegende Passagen vor.
Bundesfinanzminister Christian Lindner hob die außergewöhnliche Bedeutung hervor, die es habe, dass Margot Friedländer in das Detlev-Rohwedder-Haus, das Haupthaus des BMF, gekommen sei: „Ausgerechnet in diesen monumentalen Bau nationalsozialistischer Einschüchterungsarchitektur“. Errichtet wurde das Gebäude 1935 als Reichsluftfahrtministerium für Hermann Göring. Von hier aus trieb er die Kriegsplanungen voran. Drei Tage nach der Reichspogromnacht fand hier die sogenannte Vor-Wannsee-Konferenz statt. Auf dieser Konferenz wurde beschlossen, dass Juden zukünftig den Judenstern zu tragen hatten. Es war der Beginn der Verbannung der Jüdinnen und Juden aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben.
„Für uns ist das Geschichte, die Geschichte unserer Groß- und Urgroßeltern. Für Sie ist es Ihr Leben“, sagte Bundesfinanzminister Christian Lindner an Margot Friedländer gerichtet. „Aber dadurch, dass wir Sie heute erlebt haben, sind auch wir Zeuginnen und Zeugen dieser Wahrheit geworden und können Verantwortung weitertragen. Und Ihnen unser Versprechen geben: Nie wieder!“ Dies gelte schon im Kleinen, schon bei scheinbar alltäglichen Diskriminierungen, so der Bundesfinanzminister weiter. „Es ist das Versprechen, Respekt zu leben, Gebrauch von unserer Stimme zu machen und nicht zu schweigen. Zu schweigen bedeutet, zuzustimmen. Wer das ‚Nie wieder‘ ernst nimmt, der schweigt nicht.“
Die Lesung war der Auftakt zu einer Reihe von Veranstaltungen des BMF, die unter dem Titel „Verantwortung weitertragen“ aktiv daran erinnern wollen, was passieren kann, wenn sich zu wenige Bürgerinnen und Bürger für die Demokratie einsetzen. Die Idee dazu hatte sich im vergangenen Jahr im Gespräch mit Margot Friedländer entwickelt. Ein Essay-Wettbewerb des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks zusammen mit dem BMF hatte 2022 den Anfang gemacht. Weitere Begegnungen mit und für Schülerinnen und Schüler sollen folgen.
Auch das komplizierte Thema der Wiedergutmachung von NS-Unrecht soll beleuchtet werden. Denn die noch lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Holocausts stellen den nachfolgenden Generationen die grundsätzliche Aufgabe, zu verhindern, dass Demokratie, Freiheit und Menschenrechte erneut zerstört werden.
Wiedergutmachung
Deutschland steht zu seiner historischen Verantwortung für den Holocaust und das nationalsozialistische Unrechtsregime. Die moralische und finanzielle Wiedergutmachung des von den Nationalsozialisten verübten Unrechts hat daher einen unverändert hohen Stellenwert.
Damals wie heute wird dabei kontrovers über die Begrifflichkeit diskutiert. Alle Beteiligten sind sich dabei stets bewusst, dass eine vollständige „Wiedergutmachung“ im Wortsinn nicht möglich ist. Das unermessliche Leid, das den Opfern von NS-Unrecht zugefügt wurde, kann nicht durch Geld oder andere Leistungen aufgewogen werden. Neben der Anerkennung des zugefügten Leids soll gleichwohl auch materielle Entschädigung für das erlittene Unrecht geleistet werden.
Rechtsgrundlagen für Leistungen zur Wiedergutmachung und Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts sind durch eine Vielzahl von Regelungen in internationalen Abkommen, Bundes- und Landesgesetzen sowie Verwaltungsvorschriften der Bundes- und Landesregierungen geschaffen worden.
Dazu treten als neue Folgeaufgaben der Wiedergutmachung insbesondere der Ausbau von Holocaust Education – der Förderung von opferzentrierter Forschung und Bildung zum Holocaust – und der Aufbau des Themenportals Wiedergutmachung.

Im Gegensatz zu vielen anderen Geschichten wurde die eigene Rolle während des Zweiten Weltkriegs unter den Nationalsozialisten von Überlebenden nicht immer „am Lagerfeuer der Familien“ offen weitergegeben. Der Holocaust war in der Regel ein Tabu. Die Erfahrungen der Familien sind, bis auf die Erzählungen der Überlebenden und wenige andere Ausnahmen, aus dem Bewusstsein verloren. Im „Gedenkjahr der Wiedergutmachung“ zum 70. Jahrestag des Luxemburger Abkommens 2022 wurde daher ganz bewusst der Vermittlung von Erinnerungen und Erlebnissen eine Bühne und viel Raum für Begegnungen gegeben. Bei der Gedenkveranstaltung im September 2022 im Jüdischen Museum sprach auch Margot Friedländer mit der Journalistin Shelly Kupferberg und Studierenden. Sie bewegte mit ihren Schilderungen viele Gäste.
Anlässlich des 70. Jahrestags des Luxemburger Abkommens
von 1952 wurde 2022 das „Gedenkjahr der Wiedergutmachung“ begangen. Das Abkommen mit Israel unter Beteiligung der Claims Conference nur sieben Jahre nach Ende des Holocausts war ein Meilenstein für alle Beteiligten. Der 70. Jahrestag des Abkommens fand international große Aufmerksamkeit und wurde auch durch das BMF mit einer Gedenkveranstaltung unter Beteiligung von Bundeskanzler Olaf Scholz im Jüdischen Museum in Berlin hervorgehoben.
Darüber hinaus haben BMF und Claims Conference verschiedene kooperative Unternehmungen zur Sichtbarkeit des Abkommens und seiner Folgewirkungen bis in die heutige Zeit und in die Zukunft unternommen. Dabei wurden auch Projekte mit nichtjüdischen Opfervertretungsorganisationen, wie dem Bundesverband für NS-Verfolgte in Köln, einbezogen.
Im Zuge des Gedenkjahres entstanden u. a. der Dokumentationsfilm „Reckonings“ sowie eine Ausstellung im Deutschen Bundestag. Zudem wurde eine erste Version des Themenportals Wiedergutmachung als zentraler Zugangspunkt zu allen Akten der Wiedergutmachung im Gedenkjahr freigeschaltet.
Ohne Sekretariat und ohne Büro managt die 101-Jährige sich selbst. Schreibt E-Mails, ist Herrin ihres Postfachs und Terminkalenders, absolviert bis zu zwei Bühnentermine pro Woche. Unermüdlich arbeitet sie dafür, die Risiken, die der Demokratie drohen, immer wieder bewusst zu machen. Man müsse die Demokratie immer wieder neu erklären und schützen, denn sie sei eine gefährdete Spezies, die in der Lage sei, sich selbst abzuschaffen, sagt Margot Friedländer.

Daher wird das BMF als Ressort der Wiedergutmachung den mit Margot Friedländer begonnenen Dialog mit ihr und anderen Zeuginnen und Zeugen von Verlust und schmerzhafter Wiedergewinnung von Menschlichkeit fortsetzen. Außerdem werden Initiativen wie das Themenportal Wiedergutmachung die Dokumentation und den Zugang zu Zeugnissen von Opfern und Überlebenden ermöglichen.
Das Angebot einer Versöhnung durch Margot Friedländer ist eine Mahnung und eine Verpflichtung für uns alle.