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  • Analysen und Berichte

    Das Eu­ro­päi­sche Se­mes­ter 2021

    • Das Europäische Semester dient der Überwachung, Koordinierung und Abstimmung der Haushalts-, Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Jedes Jahr analysiert die Europäische Kommission eingehend die wirtschaftliche und finanzielle Lage der Mitgliedstaaten. Das geschieht u. a. im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts und des Verfahrens zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte. Im Vorfeld ihrer nationalen Haushaltsverfahren erhalten die Mitgliedstaaten dann entsprechende Empfehlungen.
    • Das Europäische Semester 2021 wich insbesondere durch den Start der Aufbau- und Resilienzfazilität (Recovery and Resilience Facility, RRF) stark von seinem etablierten Ablauf ab.
    • Auch in den nächsten Jahren wird die Umsetzung der RRF eine wesentliche Rolle im Europäischen Semester spielen.

    Ziel des Europäischen Semesters

    Das Europäische Semester soll die wirtschafts-, finanz- und beschäftigungspolitische Koordinierung in der Europäischen Union (EU) zusammenführen und dazu beitragen, notwendige Reformen besser umzusetzen. Es soll helfen, die Konvergenz und Stabilität in der EU sicherzustellen, solide öffentliche Finanzen zu gewährleisten, übermäßige makroökonomische Ungleichgewichte in der EU zu verhindern und Strukturreformen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und nachhaltigem Wirtschaftswachstum sowie den Übergang zur Klimaneutralität zu fördern. Regelmäßige Beobachtungen dienen dazu, wirtschaftliche, ökologische und soziale Herausforderungen für die EU und den Euroraum frühzeitig zu identifizieren und Fortschritte bei ihrer Bewältigung zu bewerten. Darauf aufbauend werden Empfehlungen ausgesprochen, die den Mitgliedstaaten helfen sollen, eine nachhaltige und wachstumsorientierte Politik umzusetzen. Temporär bietet das Europäische Semester nun auch den Rahmen für die Umsetzung der RRF.

    Das Aufbauinstrument Next Generation EU und die Aufbau- und Resilienzfazilität

    Das temporäre Aufbauinstrument Next Generation EU (NGEU) wurde zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der COVID-19-Krise geschaffen. Es wird über eine Kreditaufnahme auf EU-Ebene finanziert und hat ein Volumen von bis zu 750 Mrd. Euro (zu Preisen von 2018). Die NGEU-Mittel müssen bis Ende 2023 gebunden und bis Ende 2026 verausgabt sein. Zur Finanzierung des NGEU-Instruments wird die EU-Kommission ermächtigt, Anleihen im Namen der EU zu begeben. Aus den NGEU-Mitteln werden Zuschüsse für EU-Programme und Darlehen für die Mitgliedstaaten finanziert. Die zur Finanzierung der Zuschüsse aufgenommenen Mittel müssen bis spätestens zum Jahr 2058 über den EU-Haushalt zurückbezahlt werden. Ebenso müssen die Mitgliedstaaten, die Darlehen in Anspruch nehmen, diese bis spätestens zum Jahr 2058 zurückgezahlt haben.

    Größtes NGEU-Ausgabeninstrument ist die RRF. Sie ist mit einem Volumen von 672,5 Mrd. Euro (zu Preisen von 2018) ausgestattet (bis zu 312,5 Mrd. Euro Zuschüsse und bis zu 360 Mrd. Euro Darlehen). Ziel der RRF ist es, den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt der EU zu stärken und dabei insbesondere die Resilienz, Krisenvorsorge und Wachstumspotenziale der Mitgliedstaaten zu verbessern, die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Krise zu mildern, den Aufbau zu unterstützen und gleichzeitig den Klimaschutz und die Digitalisierung zu fördern. Die Verständigung auf die RRF war eines der zentralen Projekte unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft.

    Um Mittel aus der RRF zu erhalten, müssen die Mitgliedstaaten nationale Aufbau- und Resilienzpläne (ARP) erstellen. Die ARP enthalten Pakete aus Reformen und Investitionen. Sie sollen insbesondere die im Europäischen Semester identifizierten länderspezifischen Herausforderungen adressieren und zum ökologischen und digitalen Wandel beitragen (mindestens 37 Prozent der Mittel sollen dem ökologischen Wandel und mindestens 20 Prozent der Digitalisierung zufließen).

    Mit offizieller Vorlage der ARP bei der EU-Kommission hat diese zwei Monate Zeit für eine umfassende Bewertung. Im Einvernehmen mit dem jeweiligen Mitgliedstaat kann dieser Zeitraum verlängert werden. Die Kommissionsvorschläge für Durchführungsbeschlüsse des Rats zur Billigung der Bewertung des jeweiligen ARP werden dann in den vorbereitenden Gremien vorgestellt und beraten. Über die Annahme der Pläne entscheidet abschließend der Rat „Wirtschaft und Finanzen“ (ECOFIN) mit qualifizierter Mehrheit. Damit kann dann auch zeitnah die Vorfinanzierung (bis zu 13 Prozent der Mittel des jeweiligen ARP) ausgezahlt werden, insofern diese vom entsprechenden Mitgliedstaat beantragt wurde. Die weitere Auszahlung der Mittel erfolgt dann jeweils bei Erreichen vorab festgelegter Meilensteine und Ziele bis zur vollständigen Umsetzung des ARP bis Ende des Jahres 2026.

    In der Zeit vom 22. April 2021 bis 31. August 2021 haben bereits 25 Mitgliedstaaten ihre ARP bei der EU-Kommission eingereicht. Bis zum 6. September 2021 hat der ECOFIN die Durchführungsbeschlüsse von 18 ARP angenommen. Bei den bereits gebilligten Plänen muss der Fokus nun auf der effektiven Umsetzung liegen. Dies ist der Schlüssel zu einer raschen Erholung in der EU und wird zur Verbesserung des Wachstumspotenzials und der wirtschaftlichen und sozialen Widerstandsfähigkeit der Mitgliedstaaten beitragen.

    Das Europäische Semester 2021

    Das Europäische Semester 2021 enthielt eine Reihe temporärer Anpassungen, um den zeitlichen Anforderungen für die Aufstellung der ARP Rechnung zu tragen. Die Länderberichte der EU-Kommission wurden durch eine Analyse des nationalen ARP ersetzt, welche die EU-Kommission zusammen mit dem Entwurf der Durchführungsbeschlüsse des Rats zur Billigung der Bewertung des jeweiligen ARP vorlegt. Der Warnmechanismusbericht des makroökonomischen Ungleichgewichteverfahrens (Macroeconomic Imbalance Procedure, MIP) verzichtete auf die Auswahl weiterer Länder. Stattdessen wurde darin lediglich die Fortführung der vertieften Analyse für diejenigen Mitgliedstaaten angekündigt, denen bereits in den Vorjahren ein Ungleichgewicht bescheinigt worden war. Zudem hat die EU-Kommission in diesem Semesterzyklus nur haushaltspolitische Empfehlungen formuliert. Die Umsetzung der strukturellen Empfehlungen aus den Jahren 2019 und 2020 wird aber weiterhin überwacht. Basierend auf der Frühjahrsprognose der EU-Kommission wird die allgemeine Ausweichklausel der europäischen Fiskalregeln im Jahr 2022 weiter angewendet. Die EU-Kommission entschied sich zudem dazu, zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Rahmen der finanzpolitischen Überwachung keine Defizitverfahren einzuleiten.

    Gleichzeitig haben die länderspezifischen Empfehlungen insgesamt aber eine höhere politische Aufmerksamkeit erhalten, da alle oder ein wesentlicher Teil der Empfehlungen durch die ARP adressiert werden müssen. Damit wird die Umsetzung von länderspezifischen Empfehlungen erstmalig auch direkt an die Bereitstellung von EU-Mitteln geknüpft.

    Die allgemeine Ausweichklausel
    versetzt die Mitgliedstaaten in die Lage, im Rahmen der präventiven und korrektiven Verfahren des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) haushaltspolitische Maßnahmen zu ergreifen, die es ermöglichen, einer Krisensituation angemessen zu begegnen. Im Zusammenhang mit der präventiven Komponente in Art. 5 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EG) 1466/97 heißt es: „[...] bei einem schweren Konjunkturabschwung im Euro-Währungsgebiet oder in der Union insgesamt kann den Mitgliedstaaten gestattet werden, vorübergehend von dem Anpassungspfad in Richtung auf das mittelfristige Haushaltsziel [...] abzuweichen, vorausgesetzt, dies gefährdet nicht die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen“. Im Hinblick auf die korrektive Komponente ist festgelegt, dass der Rat der EU im Falle eines schweren Konjunkturabschwungs im Euro-Währungsgebiet oder in der Union insgesamt auf Empfehlung der EU-Kommission beschließen kann, einen überarbeiteten haushaltspolitischen Kurs festzulegen.

    Die jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum

    Am 17. September 2020 veröffentlichte die EU-Kommission ihre jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum 2021 (Annual Sustainable Growth Strategy, ASGS) und zog damit die Eröffnung des Europäischen Semesters 2021 vor. Normalerweise erfolgt die Vorlage des ASGS im November als Teil des Herbstpakets. In der ASGS benennt die EU-Kommission die wichtigsten finanz-, wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Herausforderungen für die EU im kommenden Jahr und empfiehlt Maßnahmen zu deren Bewältigung. In der ASGS 2020 hatte die EU-Kommission eine neue Wachstumsstrategie auf der Grundlage des europäischen Grünen Deals und des Konzepts der wettbewerbsfähigen Nachhaltigkeit auf den Weg gebracht. Die ASGS 2021 setzte die letztjährige ASGS fort. Die darin genannten vier Dimensionen – ökologische Nachhaltigkeit, Produktivität, Gerechtigkeit und makroökonomische Stabilität – dienten weiterhin als Leitprinzipien, an denen sich die ARP der Mitgliedstaaten ausrichten sollten. Mit Vorlage der ASGS 2021 präsentierte die EU-Kommission nicht nur ihre Strategie zur wirtschaftlichen Erholung nach der COVID-19-Krise, sondern auch die oben genannten temporären Anpassungen für den Semesterzyklus 2021, um die Fristensetzungen des ARF- und des Semesterprozesses miteinander zu vereinen und Dopplungen zu vermeiden.

    Am 6. November 2020 nahm der ECOFIN und am 23. November 2020 der Rat für Beschäftigung, Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz Schlussfolgerungen zur ASGS 2021 an. Darin wurde die Fortschreibung der Prioritäten der ASGS 2020 begrüßt. Die temporären Anpassungen im Semesterprozess 2021 wurden vor dem Hintergrund der Implementierung der ARF durch die Mitgliedstaaten bestätigt. Zugleich wurde betont, dass eine Rückkehr zu den etablierten Prozessen schnellstmöglich erfolgen solle und insbesondere die horizontalen, multilateralen Diskussionen im strukturpolitischen Bereich weiterhin von Bedeutung seien. Außerdem wurde die Fortführung der gezielten und befristeten fiskalischen Unterstützung im Jahr 2021 bestätigt, wobei gleichzeitig die Wahrung der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen betont wurde.

    Das Herbstpaket der Europäischen Kommission

    Am 18. November 2020 präsentierte die EU-Kommission ihr sogenanntes Herbstpaket. Es enthielt u. a. den Entwurf der Eurozonenempfehlungen 2021, den Warnmechanismusbericht 2021 im MIP, Informationen zur Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) sowie eine Stellungnahme der EU-Kommission zu den Haushaltsplanungen der Mitgliedstaaten des Euroraums.

    Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP)
    ist ein regelbasierter Rahmen für die Koordinierung und Überwachung der nationalen Finanzpolitiken in der EU. Im SWP wurden die Obergrenze des Schuldenstands mit 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sowie ein maximales Defizit von 3 Prozent des BIP dauerhaft festgeschrieben.

    Im Warnmechanismusbericht 2021 benannte die EU-Kommission Mitgliedstaaten, die von makroökonomischen Ungleichgewichten betroffen sein könnten. Diese können oder könnten die eigene wirtschaftliche Stabilität, die des Euroraums und/oder die der EU als Ganzes gefährden. Die betreffenden Mitgliedstaaten sollten deshalb einer vertieften Überprüfung unterzogen werden. Die EU-Kommission ging in diesem Jahr konservativ vor und plante vertiefte Überprüfungen nur für die Mitgliedstaaten, die bereits im Europäischen Semester 2020 Ungleichgewichte (Kroatien, Frankreich, Deutschland, Irland, Niederlande, Portugal, Spanien, Rumänien und Schweden) beziehungsweise übermäßige Ungleichgewichte (Zypern, Griechenland und Italien) aufgewiesen hatten. In diesen Ländern seien die Risiken durch die COVID-19-Krise gestiegen. Zwar sah die EU-Kommission auch für weitere Mitgliedstaaten potenziell krisenhafte Entwicklungen, speziell in Bezug auf die Staatsverschuldung in Verbindung mit externer Finanzierung, höherer Privatverschuldung oder dem Anstieg der Staatsverschuldung über 60 Prozent des BIP. Sie plante aber in diesen Fällen vorerst keine vertiefte Überprüfung. Deutschland wurde wegen seines nach wie vor hohen Leistungsbilanzüberschusses wieder einer Überprüfung unterzogen. Die EU-Kommission erkannte an, dass sich dieser in den vergangenen Jahren vermindert habe (um 7,1 Prozent des BIP im Jahr 2019). Sie ging aber davon aus, dass er mit der wirtschaftlichen Erholung nach der aktuellen COVID-19-Krise wieder leicht ansteigen werde.

    Der Vorschlag der EU-Kommission für Eurozonenempfehlungen des Rats umfasste die Themenbereiche Strukturreformen, Fiskalpolitik, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Finanzmarktpolitik und Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion. Überdies wurden direkte Empfehlungen zur Ausgestaltung der nationalen ARP gegeben. Die Empfehlungen forderten die Euro-Mitgliedstaaten zu einer unterstützenden fiskalpolitischen Ausrichtung auf. Sobald die Pandemielage es zulasse, sollten die nationalen Fiskalpolitiken zum Erhalt der Schuldentragfähigkeit in mittlerer Sicht zurückgefahren werden, unter Begrenzung sozialer und beschäftigungspolitischer Auswirkungen. Politikmaßnahmen sollten auf nationale Erfordernisse zugeschnitten sein und möglichst im Kreise der Mitgliedstaaten koordiniert werden. Die Mitgliedstaaten sollten ihre nationalen Institutionen, insbesondere die Gesundheits- und Sozialsysteme, stärken und prioritär Investitionen und Reformen umsetzen, die ihre Volkswirtschaften nachhaltiger und widerstandsfähiger machen. Die Qualität der öffentlichen Finanzen und der Beschaffungssysteme sollte – auch bezüglich Nachhaltigkeit – verbessert und der Binnenmarkt durch den Abbau von unnötigen Hemmnissen weiter ausgebaut werden. Die Segmentation der Arbeitsmärkte sollte reduziert und Investitionen in Aus- und Fortbildung sollten gesteigert werden. Die Arbeiten an einem Rahmen für die Besteuerung digitaler Dienstleistungen sollten ebenso wie die Anstrengungen zum Kampf gegen aggressive Steuerplanung fortgeführt und die Besteuerung vom Faktor Arbeit auf die Nutzung natürlicher Ressourcen verlagert werden. Die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) sollte, insbesondere durch den Ausbau der Kapitalmarkt- und Bankenunion, vorangetrieben und die internationale Rolle des Euros gestärkt werden. Nachdem die Eurozonenempfehlungen in den entsprechenden Gremien diskutiert wurden, hat der ECOFIN diese im Juli 2021 – nach Indossierung durch den Europäischen Rat im Juni 2021 – formal gebilligt.

    In ihren Stellungnahmen zu den Haushaltsplänen der Mitgliedstaaten des Euroraums bewertete die EU-Kommission regelmäßig die Übersichten über die Haushaltsplanung im Hinblick auf die Erfüllung der Vorgaben des SWP. Da im Sommer 2020 aufgrund der aktivierten allgemeinen Ausweichklausel des SWP keine quantitativen fiskalischen länderspezifischen Empfehlungen für die Jahre 2020 und 2021 an die Mitgliedstaaten gerichtet worden waren, überprüfte die EU-Kommission in diesem Jahr, inwieweit die Haushaltspläne der qualitativen Ratsempfehlung aus dem Sommer 2020 entsprachen. Diese sah insbesondere vor, dass die Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung und Stützung der Wirtschaft treffen und, sobald es die wirtschaftlichen Bedingungen zulassen, auf eine mittelfristig vorsichtige Haushaltslage abzielen sollten. Entsprechend betonte die EU-Kommission die Bedeutung der Fortsetzung von Unterstützungsmaßnahmen im Jahr 2021. Allerdings müssten diese im Sinne der mittelfristigen Tragfähigkeit gezielt und temporär sein.

    Die Haushaltspläne wiesen auf eine weiterhin expansive fiskalische Ausrichtung des Euroraums im Jahr 2021 hin und seien insgesamt mit der Ratsempfehlung aus dem Sommer konsistent. Allerdings erschienen einige der geplanten Maßnahmen in den Haushaltsplänen von Frankreich, Italien, Slowakei und Litauen nicht temporär sowie nicht durch andere Maßnahmen finanziert. Damit würden sie die mittelfristige Tragfähigkeit betreffen. Für Frankreich, Italien, Belgien, Griechenland, Spanien und Portugal wies die EU-Kommission darauf hin, dass es angesichts ihrer bereits vor der Krise hohen Schuldenstände wichtig sei, auf die mittelfristige Tragfähigkeit zu achten. Bezüglich der Anwendung des SWP teilte die EU‑Kommission mit, dass angesichts der weiter hohen Unsicherheit keine Entscheidungen über die Eröffnung von Defizitverfahren getroffen werden sollten. Auch im einzigen aktuell laufenden Defizitverfahren gegen Rumänien, welches im April 2020 wegen der Überschreitung der 3 Prozent-Defizitgrenze im Jahr 2019 eröffnet worden war, sollte keine Entscheidung über weitere Schritte getroffen werden.

    Vorlage der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme und der Nationalen Reformprogramme

    Bis Ende April 2021 hatten die Mitgliedstaaten des Euroraums ihre Stabilitäts-, die übrigen EU‑Mitgliedstaaten ihre Konvergenzprogramme (SKP) und alle Mitgliedstaaten ihre Nationalen Reformprogramme (NRP) vorzulegen. In den SKP legen die Mitgliedstaaten ihre finanzpolitische Strategie dar, um tragfähige öffentliche Finanzen zu erreichen. In ihren NRP legen die Mitgliedstaaten u. a. ihre Maßnahmen zur Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen dar.

    Das Frühjahrspaket der Europäischen Kommission

    Am 2. Juni 2021 veröffentlichte die EU-Kommission ihr Frühjahrspaket. Es ist das Hauptelement des Europäischen Semesters, das die Entscheidungen des ECOFIN im Rahmen des SWP und der wirtschaftspolitischen Koordinierung vorbereitet. Es umfasste vor dem Hintergrund der Pandemie und der RRF u. a. folgende Elemente:

    (1) Vorschläge für fiskalische länderspezifische Empfehlungen für alle 27 Mitgliedstaaten

    (2) Kommunikation der EU-Kommission, u. a. zur allgemeinen Ausweichklausel

    (3) Bericht nach Art. 126 (3) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (erster Schritt im Defizitverfahren)

    (4) Empfehlung nach Art. 126 (7) AEUV im Defizitverfahren Rumänien

    (5) Vertiefte Analysen im Rahmen des MIP.

    (1) Die Vorschläge für länderspezifische Empfehlungen beschränkten sich auf die Finanzpolitik. Die fiskalischen Empfehlungen waren qualitativ; quantitative Vorgaben plant die EU-Kommission erst im Jahr 2022 für die folgenden Jahre herauszugeben. Die Empfehlungen waren primär entlang zweier Gruppen an Mitgliedstaaten differenziert: Mitgliedstaaten mit hohen Schuldenständen sollten die RRF nutzen, um zusätzliche Investitionen zu finanzieren und dabei eine vorsichtige Finanzpolitik forcieren. Den Mitgliedstaaten mit niedrigeren Schuldenständen (u. a. Deutschland) empfahl die EU‑Kommission dagegen, eine unterstützende fiskalische Ausrichtung anzustreben, den Impuls durch die RRF miteinbeziehend. Allen Mitgliedstaaten mit für das Jahr 2021 prognostiziertem hohen, nicht-investiven Ausgabenwachstum riet die EU-Kommission zudem, dieses Ausgabewachstum zu begrenzen. Allen Mitgliedstaaten wurde empfohlen, die national finanzierten Investitionen beizubehalten, die Qualität der öffentlichen Finanzen zu fördern und, wenn es die ökonomischen Bedingungen zulassen, auf eine vorsichtige mittelfristige Haushaltslage und die mittelfristige Tragfähigkeit hinzuwirken. Für Deutschland ist die Empfehlung, auf eine vorsichtige Haushaltslage und mittelfristig solide Finanzen hinzuwirken, sobald es die Lage erlaubt, angemessen. Deutschland wird nach der aktuellen Projektion zur mittelfristigen Entwicklung des Staatshaushalts bereits ab dem Jahr 2024 sein mittelfristiges Haushaltsziel wieder einhalten können.

    Der ECOFIN-Rat hat die fiskalischen länderspezifischen Empfehlungen nach Diskussion in den entsprechenden Gremien am 18. Juni 2021 angenommen.

    (2) Die EU-Kommission schlug ebenfalls vor, die allgemeine Ausweichklausel des SWP auch im Jahr 2022 aktiviert zu lassen. Dies gab auch die Rechtfertigung für die rein qualitativen Empfehlungen. Die Klausel war im März 2020 aktiviert worden. Die EU-Kommission orientierte sich bei ihrer Positionierung zur weiteren Aktivierungsdauer am Wiedererreichen des Vorkrisenniveaus des BIP. Da das Vorkrisenniveau in der EU laut der dem Frühjahrspaket zugrundeliegenden Frühjahrsprognose voraussichtlich Ende dieses Jahres und im Euroraum im 1. Quartal 2022 erreicht werden soll, plante die EU-Kommission, dass die Klausel für das Jahr 2023 nicht erneut aktiviert wird.

    (3) und (4) Die EU-Kommission hatte einen Bericht nach Art. 126 (3) des Vertrags über die AEUV für 26 Mitgliedstaaten vorgelegt. Mit dem Bericht überprüfte sie die Einhaltung der Obergrenze für das staatliche Finanzierungsdefizit von 3 Prozent des BIP und die Einhaltung der Obergrenze der Schuldenquote von 60 Prozent des BIP. Gemäß der EU‑Kommissionsanalyse hatten 23 Mitgliedstaaten das Defizitkriterium verletzt, da ihr öffentliches Defizit im Jahr 2020 über und auch nicht mehr in der Nähe des im Vertrag festgelegten Referenzwerts von 3 Prozent des BIP gelegen hatte. Das Schuldenstandkriterium hatten 13 Mitgliedstaaten nicht eingehalten. Die Schuldenstandsquote für die Slowakei hatte im Jahr 2020 zwar auch leicht über dem vorgegebenen Referenzwert, gelegen die EU-Kommission ging jedoch davon aus, dass die Quote im Jahr 2021 voraussichtlich unter den Referenzwert des Vertrags fallen würde und sah daher das Schuldenstandkriterium als erfüllt an. Die EU-Kommission schlug aber vor, keine Entscheidung über die Eröffnung von Defizitverfahren zu treffen. Sie begründete dies mit der hohen Unsicherheit und mit den Ratsempfehlungen vom 20. Juli 2020, welche die Mitgliedstaaten aufforderten, alle notwendigen Maßnahmen im Rahmen der allgemeinen Ausweichklausel zu ergreifen, um die Pandemie zu bekämpfen und die Wirtschaft zu stützen.

    Finanzpolitische Kennzahlen

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    Tabelle 1

    Rumänien ist seit Frühjahr 2020 im Defizitverfahren, das noch auf das Defizit von über 3 Prozent des BIP im Jahr 2019 zurückgeht. Im Herbst 2020 hatte die EU-Kommission beschlossen, zunächst keine weiteren Schritte im Defizitverfahren zu unternehmen. Die in diesem Frühjahrspaket enthaltene Empfehlung nach Art. 126 (7) AEUV sah vor, dass das rumänische Defizit bis zum Jahr 2024 auf unter 3 Prozent des BIP sinken soll. Die Empfehlung wurde am 18. Juni 2021 vom ECOFIN angenommen.

    (5) Für die Mitgliedstaaten, die im Warnmechanismusbericht 2021 identifiziert worden waren, enthielt das Frühjahrspaket zudem vertiefte Analysen über die Existenz und Natur von makroökonomischen Ungleichgewichten. Ergeben diese, dass tatsächlich ein schädliches übermäßiges Ungleichgewicht besteht beziehungsweise unmittelbar droht, erhalten die betroffenen Mitgliedstaaten eine Empfehlung, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Die EU‑Kommission bestätigte in diesem Jahr ihre Einstufung aus dem Europäischen Semester 2020.

    Ergebnisse der vertieften Analysen im MIP:

    • Deutschland, die Niederlande, Irland, Spanien, Schweden, Frankreich, Portugal, Kroatien und Rumänien weisen „Ungleichgewichte“ auf.
    • Griechenland, Zypern und Italien weisen „übermäßige Ungleichgewichte“ auf.
      Die EU-Kommission schlug auch in diesem Jahr für keines der Länder vor, den korrektiven Arm des MIP zu aktivieren.

    Die Einstufung Deutschlands erfolgte wie in den Vorjahren auf Basis des hohen deutschen Leistungsbilanzüberschusses. Nach Auffassung der EU-Kommission reflektiert der Leistungsbilanzüberschuss (LBÜ) nicht nur die hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, sondern auch übermäßiges Sparen einerseits und eine schwache Investitionstätigkeit andererseits. Die EU-Kommission stellte zwar einen Rückgang des deutschen LBÜ auf 7 Prozent des BIP im Jahr 2020 fest, erwartete wegen schneller Erholung der Auslandsnachfrage aber im Jahr 2021 einen Anstieg auf 7,8 Prozent. Mit Erholung der Binnennachfrage erwartete die EU-Kommission einen Rückgang des LBÜ um fast 1 Prozentpunkt im Jahr 2022. Die EU-Kommission erkannte auch an, dass die Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Pandemie dabei geholfen hätten, die Wirtschaft zu stabilisieren und die Ungleichgewichte zu adressieren.

    Fortentwicklung und Ausblick

    Auch wenn die RRF als temporäres Kriseninstrument angelegt ist, wird sie während des Zeitraums ihrer Umsetzung insbesondere durch die halbjährliche Berichtspflicht eine große Rolle im Europäischen Semester spielen. Das Europäische Semester sollte dabei weiterhin das zentrale Governance-Instrument der wirtschafts-, finanz- und beschäftigungspolitischen Koordinierung auf EU-Ebene bleiben. Die Umsetzung der RRF sollte darin integriert werden. Es ist daher wichtig, schnellstmöglich zu den etablierten Prozessen der multilateralen Überwachung zurückzukehren; dazu gehören insbesondere die Länderberichte, die vollumfänglichen länderspezifischen Empfehlungen und die NRP. Dabei könnten Neuerungen, Schwerpunktsetzungen und Erfahrungen aus dem RRF-Prozess in das Europäische Semester einfließen, wo dies sinnvoll erscheint. Gleichzeitig sollte eine inhaltliche Überfrachtung des Semesters vermieden werden. Bezüglich der haushaltspolitischen Überwachung steht eine Rückkehr zu den normalen Verfahren an.

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