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    Eu­ro­päi­sche Öf­fent­li­che Gü­ter: Ge­mein­sam sind wir stark

    • Die Ökonomen Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest und Prof. Jean Pisani-Ferry haben eine ökonomische Studie zur Entwicklung Europäischer Öffentlicher Güter erstellt und diese am 8. November 2019 in Brüssel dem Bundesfinanzminister Olaf Scholz und seinem französischen Amtskollegen Bruno Le Maire übergeben.
    • Die Studie stellt substanzielle Ansätze für eine Neubestimmung der Kompetenzverteilung zwischen der Ebene der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten vor, um den europäischen Mehrwert zu steigern und die neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in Europa gemeinsam zu bewältigen.
    • Die Analyse durch Fuest und Pisani-Ferry leistet einen wichtigen Debattenbeitrag, greift die Perspektive zur Stärkung eines souveränen Europas auf und gibt damit Impulse für die politische Agenda der neuen Europäischen Kommission.

    Einführung

    Die renommierten Ökonomen Clemens Fuest (EconPol Europe und ifo-Präsident) und Jean Pisani-Ferry (European University Institute, Bruegel sowie Hertie School of Governance) haben in einer vom BMF und dem französischen Finanzministerium initiierten Studie die Frage der Kompetenzzuordnung in Europa – Verantwortung auf der Ebene der Europäischen Union (EU) oder der mitgliedstaatlichen Ebene – neu gestellt. Der vom Forschungsnetz EconPol Europe veröffentlichte, international beachtete Policy Report wurde am Rande des ECOFIN am 8. November 2019 in Brüssel dem Bundesfinanzminister Olaf Scholz und seinem französischen Amtskollegen Bruno Le Maire übergeben und von den Autoren im Einzelnen vorgestellt.1

    Ökonomische Begründung für Europäische Öffentliche Güter

    Nach welchen Kriterien bestimmt sich, auf welcher Ebene der erwünschte Effekt der Bereitstellung öffentlicher Güter besonders groß wäre? Welche öffentlichen Güter haben wann einen europäischen Mehrwert? Welche Voraussetzungen müssen vorliegen, damit die Verlagerung auf die europäische Ebene in der Praxis gelingen kann? Welche institutionellen Fortentwicklungen werden damit erforderlich? Und für welche Europäischen Öffentlichen Güter sind sinnvolle Zwischenlösungen denkbar? Nicht zuletzt: Wie groß wären die Opportunitätskosten, wenn in den relevanten Bereichen der Schritt zur Europäisierung nicht gelänge? Mit der Behandlung dieser zentralen Fragen liefert der Bericht substanzielle Ansätze für eine wechselseitige Neubestimmung der Kompetenzverteilung zwischen EU-Ebene und Mitgliedstaaten und skizziert gleichzeitig zentrale Handlungs- und Prüfungsfelder für eine Europäisierung von Kompetenzen.

    Ökonomisch leitet sich die Begründung für eine Bereitstellung von öffentlichen Gütern aus deren Eigenschaften der Nicht-Rivalität im Konsum sowie der Nicht-Ausschließbarkeit ab. Ein typisches ökonomisches Beispiel ist die Verteidigung. Für ist eine europäische Bereitstellung gegenüber einer rein nationalen nach der Vorstellung der beiden Ökonomen dann zu präferieren, wenn sich – auch unter Berücksichtigung der institutionellen Rahmenbedingungen – ein klarer europäischer Mehrwert aufgrund der Gütercharakteristika empirisch nachweisen lässt. Diese Abschätzung eines europäischen Mehrwerts und die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips sind somit zwei Seiten einer Medaille. Wenngleich die empirische Kosten-Nutzen-Abschätzung durchaus anspruchsvoll ist (nicht zuletzt für die Öffentlichkeit), so ist die daraus abzuleitende Kompetenzverteilung doch eine eminent wichtige Frage.

    Als öffentliches Gut

    wird in den Wirtschaftswissenschaften ein Gut bezeichnet, das vielen Konsumentinnen und Konsumenten preisgünstig zur Verfügung gestellt werden kann (Nicht-Rivalität im Konsum) und es gleichzeitig sehr schwierig ist, andere Konsumentinnen und Konsumenten vom Gebrauch oder Konsum dieses Guts auszuschließen (Nicht-Ausschließbarkeit). Öffentliche Güter können ein Grund von Marktversagen sein. Um dieses Problem zu lösen, kann der Staat selbst das öffentliche Gut zur Verfügung stellen oder Anreize für private Unternehmen schaffen, das Gut zu produzieren. Ein Europäisches Öffentliches Gut liegt dann vor, wenn aufgrund der Gütereigenschaften eine europäische Bereitstellung einen erkennbaren europäischen Mehrwert erbringt, insbesondere im Vergleich zu einer rein nationalen oder regionalen Bereitstellung.

    Hintergrund dieser Neuverortung ist eine Situation, in der sich die politischen Erwartungen an die EU und ihre Mitgliedstaaten fundamental gewandelt haben. Nur ein einiges Europa und damit eine starke EU – so der Befund – sind in der Lage, Handlungsfähigkeit in zentralen Politikbereichen zu beweisen. Dies gilt sowohl im globalen Kontext als auch mit Blick auf die konkreten Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger. Die Mitgliedstaaten der EU sind zweifellos mit einer Reihe an internationalen Herausforderungen konfrontiert: der Bekämpfung des Klimawandels, der Besteuerung multinationaler Unternehmen, den gegenseitigen Handelsbeziehungen, der Stabilität der Finanzmärkte oder dem Umgang mit Flüchtlingen. Diese Aufgaben lassen sich aber durch nationalstaatliches Handeln allein nicht mehr effektiv lösen.

    In einem von technologischen, globalen und regionalen Herausforderungen sowie geopolitischen Verschiebungen veränderten Kontext ist es an der Zeit, den Europäischen Öffentlichen Gütern neue Priorität einzuräumen. Die beiden Ökonomen argumentieren, dass sich die Wirtschaftsbeziehungen zu globalen Playern, die Außen- und Verteidigungspolitik, der Kampf gegen den Klimawandel, die Migrationspolitik oder etwa die digitale Souveränität und Cybersicherheit nur grenzüberschreitend, gemeinsam und damit auf EU-Ebene regeln lassen.

    Gleichzeitig stellen die beiden Autoren fest, dass in der Vergangenheit die wirtschaftliche Integration in der EU im Vordergrund gestanden hat. Der Binnenmarkt und der Euro waren und sind sowohl integrationsgetrieben als auch Integrationstreiber. Es sei aber darüber hinaus immer Ziel gewesen, Europäische Öffentliche Güter zu produzieren, etwa in Gestalt gemeinsamer Politiken wie der Industriepolitik. Solchen Zielen müsse künftig stärkere Beachtung geschenkt werden. „Es gibt sicher berechtigte Sorgen, dass die Nationalstaaten ihre Souveränität verlieren könnten, wenn die EU neue Kompetenzen bekommt. Aber auf verschiedenen Politikfeldern haben wir heute nur die Wahl zwischen einer europäischen Souveränität und gar keiner Souveränität“, so Pisani-Ferry und Fuest.

    Zentrale politische Handlungsfelder

    Die EU sollte daher die Arbeitsteilung zwischen der nationalen und der europäischen Ebene neu organisieren. Die Studienautoren plädieren dafür, der EU-Ebene mehr Zuständigkeiten zu übertragen. In dem sich über die vergangenen Jahrzehnte grundlegend veränderten wirtschaftspolitischen Umfeld sei eine deutliche Ausweitung der potenziellen Handlungsfelder mit dem Charakter von öffentlichen Gütern festzustellen. Konkret sehen die beiden Ökonomen Vorteile für eine Vergemeinschaftung der EU-Politik in folgenden Feldern:

    1. Außenwirtschaftsbeziehungen: Die EU muss neben der Wettbewerbs- und Handelspolitik auch die „Investitionspolitik“ in den Blick nehmen. Der Rat der EU soll das Recht erhalten, mit qualifizierter Mehrheit ausländische Investitionen in einem EU-Land zu blockieren, die eine Gefährdung der europäischen Sicherheit darstellen. Die Internationalisierung des Euro sollte gefördert werden, etwa durch die Einführung eines gemeinsamen sicheren Vermögenswerts; auf eine konsolidierte Vertretung des Euro-Währungsgebiets beim Internationalen Währungsfonds (IWF) wäre hinzuarbeiten.
    2. Klimaschutz: Alle Sektoren sollten Teil eines europäischen Regimes sein, das auf dem Emissions Trading System (ETS) oder einem System der CO2 Steuer beruht. Die EU sollte in der Lage sein, mit qualifizierter Mehrheit verbindliche Korridore für CO2-Preise festzulegen und Verstöße gegen eine gemeinsam festgelegte Dekarbonisierung zu ahnden. Dabei sollten die sozialen Kosten des Übergangs ausgeglichen werden.
    3. Digitale Souveränität: Die EU sollte ihre Ressourcen bündeln, um die Cybersicherheit und die digitale Souveränität zu schützen. Eine hochrangige Gruppe sollte Maßnahmen für den Binnenmarkt und Optionen für eine engere Zusammenarbeit zwischen den Regionen vorschlagen.
    4. Spitzenforschung: Eine europäische Förderung bahnbrechender Innovationen im Stile der US-amerikanischen Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) sollte sich auf wegweisende Projekte konzentrieren – ohne Berücksichtigung der regionalen Verteilung über Länder hinweg – und sollte Instrumente an der Hand haben, um erfolglose Projekte auch effektiv zu beenden.

      Die Defense Advanced Research Projects Agency, kurz DARPA,

      ist die Forschungsagentur des US-Verteidigungsministeriums. Gegründet wurde sie als ARPA nach dem Sputnik-Schock im Jahr 1958. Ihre Aufgabe ist nach eigenen Angaben, die „technische Überlegenheit des US-Militärs aufrechtzuerhalten“. Die Behörde kümmert sich um militärisch relevante Forschung wie die Entwicklung von Drohnen, Robotern oder der Tarnkappentechnik. Das bekannteste und erfolgreichste Projekt der Agentur dürfte das Arpanet sein, aus dem das Internet hervorging.

    5. Entwicklungszusammenarbeit und finanzielle Unterstützung für Drittländer: Aufgrund starker Argumente für einen gemeinsamen Entwicklungsansatz sollte die EU entscheiden, ob sie das Außenmandat der Europäischen Investitionsbank stärken oder ihre Beteiligung an der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung zukunftsorientiert nutzen will.
    6. Migrationspolitik und Schutz der Flüchtlinge: Ein Vorschlag der Autoren lautet, ein europäisches Grenzschutzsystem, ein gemeinsames Asylrecht und Verfahren für die Verteilung von Asylberechtigten und die Rückführung von Menschen ohne Asylanspruch einzuführen. Dies setzt in der Logik einer flexiblen Geometrie voraus, dass derartige Initiativen zunächst im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit einer Untergruppe von Mitgliedstaaten vorangetrieben werden, an dessen Ende der Schengen-Raum und der gemeinsame migrationspolitische Raum sich überschneiden.
    7. Außenpolitik und Außenvertretung: Die Argumente für einen gemeinsamen europäischen außenpolitischen Ansatz sind stark. Gleichwohl sind prozedurale Mechanismen nicht hinreichend, um bestehende, tiefgreifende politische Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten zu überwinden. In einem graduellen Ansatz werden daher Initiativen zur Stärkung der europäischen „Soft Power“, eine effizienzorientierte Verwaltungszusammenarbeit sowie regelmäßige Weißbücher zur europäischen Außenpolitik vorgeschlagen.
    8. Militärische Beschaffung und Verteidigung: Der Weg zu einer europäischen Verteidigung unterliegt ebenfalls den Regeln der flexiblen Geometrie. Dabei sollten zunächst Fortschritte auf dem Weg zu einer gemeinsamen Beschaffung, gemeinsamen Infrastrukturen, einer gemeinsamen Rüstungsexportpolitik und gemeinsamen Verteidigungsinitiativen erzielt werden.

    Fragen der Governance und Finanzierung

    Die Beantwortung der Frage nach arbeitsfähigen Formen der Bereitstellung solcher Güter kann nicht im institutionellen Vakuum erfolgen, sondern begründet sich durch die Rahmenbedingungen und Spielräume, welche die EU-Verträge aufspannen. Die Heterogenität der potenziellen Handlungsfelder erfordert im Verständnis der Autoren eine flexible Geometrie institutioneller Lösungen, die von vollständiger Vergemeinschaftung, aber auch vollständiger Dezentralisierung über sogenannte Club-Güter bis hin zu bilateralen Pilotprojekten reichen kann.

    Im Falle von Club-Gütern

    ist eine Ausschließbarkeit im Konsum oder von der Nutzung möglich. Gleichzeitig liegt keine oder nur eine geringe Rivalität im Konsum vor. Club-Güter müssen nicht durch den Staat bereitgestellt werden, sondern können auch durch Unternehmen und andere Organisationen in Form von Gruppen beziehungsweise Clubsangeboten werden. Normalerweise besteht hier keine Rivalität, weil diese Güter von mehreren Konsumentinnen und Konsumenten gleichzeitig genutzt werden können. Rivalität im Konsum entsteht bei einer Bereitstellung über einen Club bei steigender Mitgliederzahl aufgrund von Kapazitätsgrenzen.

    Der Anspruch einer Entwicklung Europäischer Öffentlicher Güter und die damit verbundene Effizienzvermutung muss empirisch nachgewiesen werden, um dann in der Konsequenz Ressourcen auf die europäische Ebene zu verlagern. Auch die fiskalischen Implikationen der Entwicklung Europäischer Öffentlicher Güter sowie die Rückwirkungen auf nationales und regionales staatliches Handeln sind in den Blick zu nehmen. Zwar erfordert die verstärkte Bereitstellung Europäischer Öffentlicher Güter zusätzliche Finanzmittel, jedoch sollte sich die Gesamtbelastung für die EU-Bürgerinnen und -Bürger damit nicht erhöhen. Im Sinne des Konzepts muss es gerade ein Kernziel des Ansatzes sein, Budgetbelastungen zu reduzieren, indem öffentliche Güter auf europäischer Ebene effizienter als auf nationaler Ebene bereitgestellt werden. Mit Blick auf die aktuelle Debatte um das künftige Finanzierungssystem der EU schlagen die beiden Ökonomen vor, dass hierfür die Finanzierungsbeiträge der Mitgliedstaaten erhöht werden müssten.

    Um das Momentum zur Bereitstellung Europäischer Öffentlicher Güter zu stärken, schlagen die Autoren bilaterale Projekte vor, etwa eine deutsch-französische Agentur beziehungsweise ein gemeinsames Forschungsinstitut für Cybersicherheit sowie einen deutsch-französischen Fonds zur Unterstützung grundlegender, sogenannter Sprunginnovationen. Ferner fordern sie eine gemeinsame Afrikastrategie sowie eine gemeinsame deutsch-französische Vertretung im IWF.

    Fazit

    Die Analyse der Potenziale einer Europäisierung wichtiger öffentlicher Aufgabenbereiche durch Fuest und Pisani-Ferry leistet einen weiteren wichtigen Debattenbeitrag, greift die bekannte Perspektive zur Stärkung eines souveränen Europas auf und gibt damit Impulse für die politische Agenda der neuen Europäischen Kommission.

    Fußnoten

    1

    Die komplette Studie (engl.) finden Sie hier: www.econpol.eu

    Ein auf der Studie aufbauender Kommentar (dt.) ist veröffentlcht unter: www.ifo.de

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