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21.03.2023

Margot Friedländer im Gespräch mit Minister Lindner und Schülerinnen und Schülern

CHRISTIAN LINDNER: Liebe Margot Friedländer, verehrte Damen, meine Herren, liebe Schülerinnen, liebe Schüler, ich begrüße Sie alle sehr herzlich hier im Matthias-Erzberger-Saal im Bundesministerium der Finanzen. Allen voran möchte ich Ihnen, verehrte liebe Frau Friedländer, sehr herzlich dafür danken, dass Sie hier hingekommen sind, in dieses Gebäude, das ein Stück nationalsozialistischer Einschüchterungsarchitektur war, ein erschütternder Monumentalbau aus dem Jahr erbaut für den damaligen Reichsluftfahrtminister, Hermann Göring. Er trieb von hier die Kriegsplanungen voran. Dieser Ort hier war auch Quelle von Leid, Vertreibung und Tod in Europa und drei Tage nach der Reichspogromnacht fand in diesem Haus die sogenannte Vor-Wannseekonferenz statt. Auf dieser Konferenz wurde beschlossen, dass Jüdinnen und Juden zukünftig den Judenstern zu tragen haben würden. Es wurden die Weichen für die Ausschaltung der Jüdinnen und Juden aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands gestellt. Und später wurde von hier der systematische, industriell betriebene Massenmord an Europas Jüdinnen und Juden vorbereitet.

Sie, liebe Margot Friedländer, Sie haben den Judenstern tragen müssen. Sie wurden 1hier in Berlin geboren. Ihre frühe Kindheit beschreiben Sie als glücklich und unbeschwert, geborgen in einer großen Familie mit einem Sommerhaus am Scharmützelsee. Aber nach 1933 wird die politische Lage bedrohlicher. Lange Zeit hadert Ihre Mutter, bei der Sie und Ihr jüngerer Bruder Ralph nach der Trennung Ihrer Eltern lebten, mit der Entscheidung, Deutschland zu verlassen. Die Chancen aber auf eine legale Ausreise verflüchtigten sich eine nach der anderen. Die Entrechtung von Jüdinnen und Juden in Deutschland schreitet voran. Am 20. Januar 1943 schließlich wollen Sie mit Mutter und Bruder aus Deutschland fliehen, aber es ist zu spät. Die Gestapo verhaftet Ihren Bruder. Ihre Mutter stellt sich der Polizei, um Ihren Bruder nicht allein zu lassen und beide werden niemals wiedergesehen. Alles, was Ihnen Ihre Mutter hinterlässt, ist ihre Handtasche, eine Bernsteinkette und die Nachricht "Versuche dein Leben zu machen". Sie befolgen dieses Vermächtnis Ihrer Mutter, die ebenso wie Ihr Bruder und Ihr Vater in Auschwitz ermordet wird.

Sie gehen in den Untergrund, verstecken sich mit Anfang 20 für 15 Monate in Berlin, bis Sie im Frühjahr 1944 verraten und nach Theresienstadt deportiert werden. Und wie durch ein Wunder überleben Sie und können hier heute unter uns sein. In Theresienstadt treffen Sie Adolf Friedländer wieder, den Sie aus Berlin kennen und den Sie nach der Befreiung noch im Lager heiraten, was ein Zeichen für Überlebenswillen und was eine Bestätigung des Versuchs ist, Ihr Leben zu machen. Gemeinsam emigrieren Sie in die Vereinigten Staaten von Amerika. Eine Rückkehr nach Deutschland steht nicht zur Debatte. Nach dem Tod Ihres Mannes indessen beginnen Sie zu schreiben. Und dieser Schritt zu schreiben, führt dann dazu, dass Sie Berlin noch einmal besuchen, um dann im Alter von 88 Jahren doch dauerhaft in Ihre Heimatstadt zurückzukehren. Wir sind uns in den vergangenen Jahren wiederholt begegnet. Ich erinnere mich beispielsweise an unsere Begegnung im vergangenen Jahr anlässlich der Erinnerung an die 70 Jahre des Abschlusses des Luxemburger Abkommens.

Und jede dieser Zusammenkünfte hat mich sehr bewegt. Sie erzählen schließlich von für uns heutige ungeheuerlichen Verbrechen, Menschheitsverbrechen, die Sie erlitten haben, die nicht Gegenstand von Geschichtsschreibung sind, aus Geschichtsbüchern oder aus Filmen, sondern die Sie als Mensch eben erlebt haben. Und wir haben das Privileg, Ihnen zuhören zu dürfen, damit das, was von Deutschen und was im deutschen Namen getan worden ist, niemals in Vergessenheit gerät. Was mich so besonders berührt, ist, dass trotz dieses Schicksals, trotz Ihrer Zeitzeugenschaft eines industriell betriebenen Massenmords, Ihrer Inhaftierung in Theresienstadt, Ihrer Emigration in die Vereinigten Staaten, trotz des Willens, in die alte Heimat nicht zurückkehren zu wollen, dass Sie zu keinem Zeitpunkt verbittert sind. Sehr wohl, wir werden es gleich vermutlich auch spüren, sind Ihnen Fassungslosigkeit und Trauer immer anzumerken, aber eben keine Verbitterung, sondern man ist eher ergriffen von der Nahbarkeit und der Herzenswärme, die Sie verspüren.

Und auch berührt mich das Vertrauen, dass Sie in uns, also in Ihre Zeitgenossinnen und Zeitgenossen setzen, niemals wieder hinzunehmen, was einst in deutschem Namen und von Deutschen getan worden ist. Meine Freude ist also groß, dass Sie hier heute auch jüngeren Menschen die Gelegenheit geben, Sie zu hören, Sie zu erleben und ich darf Ihnen und euch allen schon jetzt versprechen, das vergisst man nicht, Sie vergisst man nicht. Genau darum geht es Ihnen auch, uns anzuhalten, nicht zu vergessen, aktiv zu erinnern an eine Zeit, in der Demokratie und Freiheit und Menschenrechte auf deutschem Boden beseitigt worden sind. Sie wissen, was passieren kann, wenn sich zu wenige Bürgerinnen und Bürger zur Demokratie bekennen und sich für Menschenrechte und Menschlichkeit einsetzen. Sie wurden Zeugin dessen, was Menschen einander antun können. Und so ist es letztlich diese scheinbar schlichte Erkenntnis, die Sie uns nahebringen: "Ihr müsst alle Menschen respektieren. Ihr müsst sie nicht lieben, aber respektieren." Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, die Erinnerung weiterzutragen, auch wenn immer mehr Zeitzeugen nicht mehr für das persönliche Gespräch zur Verfügung stehen.

Die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum hat dies unlängst mit einem Merksatz auf den Punkt gebracht. Sie sagte: "Erinnerungskultur sei Demokratieerziehung". Das ist jetzt nicht das hübscheste Wort, aber dennoch ist es treffend. Erinnerungskultur ist Demokratieerziehung und um nichts anderes soll es hier heute und in Zukunft gehen, denn Ihr und Sie sind heute Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Auftaktes einer neuen Gesprächsreihe. Unter der Überschrift "Verantwortung weitertragen", wollen wir Margot-Friedländer-Gespräche hier im Bundesministerium der Finanzen organisieren. Heute ist der Auftakt dafür, dass wir hier in diesem Hause auch Demokratieerziehung praktizieren. Nur wenn es uns gelingt, das aktuelle Zeitgeschehen immer auch zu spiegeln an den Erfahrungen der Geschichte und ihren Lehren, dann haben wir eine gute Zukunft, dann ist Mitmenschlichkeit gesichert. Dass wir es genau hier an diesem Standort machen, wir haben gerade eben drüber gesprochen, liebe Frau Friedländer, das hat ja auch so eine besondere Bewandtnis.

In dem Gebäude, das für Hermann Göring gebaut worden ist, dem Gebäude der Vor-Wannseekonferenz, dem Haus der Ministerien der DDR hier finden diese Gespräche statt. Und zugleich ist hier auch der Ort, wo wir uns bemühen, um die Unterstützung der Opfer des Nationalsozialismus. Ich habe gerade gezögert. Das Wort, das sich eingebürgert hat, ist ja "Wiedergutmachung". Ich spreche es bewusst mit Anführungsstrichen, denn jeder und jedem von uns ist klar, dass Wiedergutmachung für das, was Jüdinnen und Juden und anderen Opfern widerfahren ist, dass Wiedergutmachung nicht denkbar ist, aber das Bemühen eben darum, erlittenes Leid zu lindern und denjenigen, die es erlitten haben, ein Leben in Würde, auch ein Altern in Würde zu ermöglichen. Liebe Margot Friedländer, Sie sind persönlich eigentlich Zeugnis für das, was man vielleicht das "Wunder der Versöhnung" nennen kann.

Dass es heute nämlich möglich ist, dass wir hier miteinander sitzen, dass Sie gleich hier berichten aus Ihrem Leben nach dem Menschheitsverbrechen, das von Deutschland ausging, das ist ein Wunder. Und dass das innerhalb eines Lebens gelingen kann Versöhnung, Verständigung und am Anfang dieses Lebens stand das Menschheitsverbrechen das ist ein Wunder und das ist zugleich auch der Grund, warum wir in der besonderen Verantwortung stehen, in Ihrem Namen weiter zu arbeiten für Menschlichkeit, Menschenrechte, Demokratie und Verständigung. Vielen Dank, dass Sie heute hier sind. Es ist ein Privileg für uns alle, jetzt Ihnen das Wort geben zu dürfen. Vielen Dank!

ANNA GEUCHMANN-BAKAL: Liebe Frau Friedländer, auch von uns noch mal ein herzliches Willkommen im Bundesministerium der Finanzen. Wir haben uns vor einem Jahr im Zuge des Gedenkjahres "70 Jahre Luxemburger Abkommen" kennengelernt und dort, das hat der Minister schon gesagt, haben Sie Ihre Botschaft vermittelt, die Jugend müsse Demokratie und Freiheit schützen. Das ist die Botschaft, die Sie weitergeben. Und auch wir, als Bundesministerium der Finanzen, möchten das weitertragen. Wir sind mit Ihnen in Kontakt geblieben und daraus ist dieses Projekt entstanden und deswegen sind wir heute hier. Frau Friedländer, wir würden Sie jetzt gerne auf die Bühne bitten. Und wir begrüßen sie alle jetzt hier und sie wird aus ihrem Buch lesen.

TOBIAS HAUCK: Ganz kurz auch noch zu uns. Wir werden Sie jetzt hier kurz durch diese Fragerunde führen. Zunächst wird Frau Friedländer etwas aus ihrer Autobiografie "Versuche dein Leben zu machen" vorlesen. Und mein Name ist Tobias Hauck, tätig hier im Referat für Öffentlichkeitsarbeit des Bundesministerium der Finanzen.

ANNA GEUCHMANN-BAKAL: Und mein Name ist Anna Geuchmann-Bakal. Ich bin auch Referentin hier im Haus. Vielleicht noch zu diesem Buch, was ich in der Hand halte. Das ist natürlich das Buch von Margot Friedländer, aber wie Sie sehen, ist das jetzt auch schon ein Zeitdokument, weil es ist das, womit sie immer ihre Lesung beschreitet. Dementsprechend sind da schon einige Notizen. Da ist schon einiges passiert. Und auch das hier zu haben, ist Geschichte per se. Frau Friedländer, wenn Sie uns etwas aus Ihrem Buch vorlesen würden, würden wir uns sehr freuen.

MARGOT FRIEDLÄNDER: Es ist für mich sehr schwer, wenn jemand über das Mikrofon spricht.

TOBIAS HAUCK: Ich habe in Ihrem Buch schon einige Stellen auch mehrfach lesen können und für mich persönlich muss ich sagen, ist der Tag, an dem Sie in den Untergrund gewechselt sind, beispielsweise eine, die ich besonders eindrücklich fand. Gepaart natürlich mit dem Tag, der Sie nach Theresienstadt gebracht hat und der Tag, der Sie dort wieder die Freiheit hat entdecken lassen. Das wären meine Vorschläge, aber ich würde sagen, wählen Sie selbst aus.

MARGOT FRIEDLÄNDER: Ich gehe die Skalitzer Straße entlang. Es ist kurz nach zwei Uhr ein grauer, kalter Januartag. Ich bin tief in Gedanken, sodass ich den Mann, der in einen kurzen Weg vor mir geht, kaum bemerke. Es ist der 20. Januar Heute Abend wollen wir, meine Mutter, mein Bruder und ich, weg aus Berlin. Ist das ein ungeheures Vorhaben also es wäre mein letzter Tag in Berlin. Ich habe die Nummer 32, unser Haus, fast erreicht, da sehe ich, wie der Mann, der vor mir her ging, auch in das Haus hineingeht. Was soll ich machen? Ich muss nach Hause. Meine Mutter wartet auf mich. Wir müssen über unsere Flucht heute Abend sprechen. Automatisch hatte ich meinen Judenstern bereits verdeckt. Umkehren kann ich nicht mehr. Ohne Notiz von ihm zu nehmen, gehe ich an ihm vorbei, weil ich ihn direkt vor unserer Türe stehen sehe. Auf wen wartet er? In der dritten Etage bleibe ich stehen. Die Wohnung über uns, die Nachbarn kenne ich kaum.

Es sind keine Juden, ich hatte noch kein Wort mit ihnen gesprochen. Jetzt hoffe ich, dass sie zu Hause sind. Die Türe öffnet sich und die Nachbarin erkennt mich sofort. Sie wartet, bis ich im Flur bin und schließt die Türe. Jetzt wird mir klar, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss. Wir setzen uns ins Wohnzimmer. Sie sitzt mir gegenüber. Sie sagt: "Sie sind gekommen die Gestapo." "Wann?", frage ich. Sie sagt: "Am Vormittag. Ich hörte plötzlich: Aufmachen, aufmachen. Dann der Lärm auf den Treppen. Ich bin zum Fenster gegangen, da kam sie gerade aus der Tür heraus. Sie haben sie in den Polizeiwagen gestoßen." "Wen?", frage ich. "Frau Meißner und ein junges Paar. Ich kannte sie nicht." "Und der Junge? Mein Bruder, Ralph? Meine Mutter?" "Nein, die Mutter war nicht dabei gewesen. Eine Stunde nachdem sie weggefahren sind, ist ihre Mutter nach Hause gekommen. Sie hatte was zu besorgen. Ich habe ihr alles erzählt." "Hat sie nach mir gefragt?" "Ich habe gesagt, dass du auch nicht dabei warst." "Und wo ist sie jetzt?" "Sie hat gesagt, sie geht zu Nachbarn, Nachbarn in der Straße." Ich weiß sofort, wen sie meint.

Ein Ehepaar, das wir flüchtig kennen. Sie wohnen zwei Häuser weiter. Dort also ist sie und ich kann nicht zu ihr. Sicher steht der Mann noch vor der Türe. Ich warte, es wird langsam dunkel. Es ist Januar, ungefähr halb vier stehe ich auf. Nun muss ich gehen sofort, ganz egal, ob der Mann noch da steht. Langsam gehe ich die Treppe runter. Ich kann nun auch das Siegel unserer Wohnung, die versiegelt ist, sehen. Der Mann steht nicht mehr da. Auf der Skalitzer Straße muss ich nur zwei Häuser weitergehen, da sehe ich bereits hinter der Gardine Schatten. Aber ich sehe meine Mutter nicht. Die Frau öffnet mir die Türe. "Wo ist sie?", frage ich atemlos. Die Frau wartet, bis ich im Flur bin und dann sagt sie mir was. Sie schließt die Türe. "Ihre Mutter ist gegangen." Im ersten Moment verstehe ich nicht. Bin ich zu spät? Sucht sie mich? "Sie hat eine Nachricht für dich hinterlassen." Ich warte darauf, dass die Frau mir irgendetwas übergibt, einen Zettel, den meine Mutter für mich geschrieben hat. "Ich sollte dir etwas ausrichten" und dann sagt sie mir, was mir meine Mutter nicht mehr selbst sagen kann. "Ich habe mich entschlossen, zur Polizei zu gehen.

Ich gehe mit Ralph, wohin auch immer das sein mag. Versuche, dein Leben zu machen." Das ist der Titel des Buches geworden. Das sollen ihre Worte sein, kalte Worte aus dem Mund fremder Leute. Ich schaue die Frau fragend an. "Das hat sie gesagt, sonst nichts?" "Dann ist sie gegangen." Erst beim zweiten Mal begreife ich seinen Sinn. Ein grausamer Satz, kalt und gleichgültig. Ich stehe da, mit nichts, außer diesem Satz. Nicht eine einzige Zeile in ihrer Handschrift habe ich. Jetzt greift die Frau nach etwas, das auf der Flurkommode steht. Sie drückt es mir in die Hand. Ich fühle glattes Leder. Dann sehe ich es: die Handtasche meiner Mutter. Ich öffne sie. Ein Geruch kommt mir entgegen, ganz meine Mutter. Ich fühle etwas Kühles, Glattes in der Tasche. Ich ziehe es heraus. Es ist ihre Bernsteinkette und ein Notizbuch, das sie hinterlassen hat, mit vielen Adressen von Reisebüros, Visa-Stellen, Konsulaten und Kontakten, die später vielleicht nützlich sein könnten. Ich schließe die Tasche und gehe zur Tür keinen Grund, noch länger zu bleiben. Die Frau beachtet mich nicht, hält mich nicht auf, fragt nicht, wohin ich gehe. "Auf Wiedersehen", sage ich.

Wir wissen, es wird kein Wiedersehen geben. An der Tür nehme ich den Judenstern ab. Ich stehe auf der Skalitzer Straße. Automatisch setze ich einen Fuß vor den anderen. Es ist sehr dunkel und sehr kalt geworden. Ich kann die Nacht nicht auf der Straße verbringen, aber wohin soll ich gehen? Wo soll ich schlafen? Auf einer Bank? Ich würde erfrieren. Ich muss eine Entscheidung treffen. Ich bin gerade 21 Jahre alt, habe noch nie eine Entscheidung allein getroffen. Mein Leben war mit meiner Mutter, meinem Bruder, meiner Familie. Das ist nun vorbei. Warum hat meine Mutter nicht auf mich gewartet? Ganz mechanisch laufe ich weiter, ohne Ziel. Plötzlich stehe ich vor der Türe von Freunden, Siggi Hirsch und seiner Schwester. Sie sind zu Hause. Ich kann die Nacht bei ihnen verbringen meine erste Nacht im Untergrund. Früh am Morgen, muss ich das Haus verlassen. Ich laufe durch die Dunkelheit in Straßen, die ich gut kenne, die aber fremd mir erscheinen. Ich muss fürchten, jemanden zu treffen, der mich kennt. Ich senke meinen Kopf, wenn mir Menschen entgegenkommen. Doch niemand beachtet mich.

Die Menschen gehen alle zur Arbeit. Sie sind hinter Mantelkragen und Schals versteckt. Langsam wird es allmählich heller, es öffnen die Bäckereien, Zeitungskioske, andere Geschäfte. Jetzt kam ich auch an einem Friseur vorbei. Die Friseurin ist drin und fegt den Fußboden und wartet auf Kundschaft. Ich treffe eine Entscheidung. Die Friseurin lächelt mich an, als ich reinkomme in den Laden. "Was kann ich für Sie tun?" "Einmal Haare färben, bitte." "Welche Farbe möchten Sie denn gerne?" Ich überlege. "Rot", sage ich. Ich lasse mir die Haare färben. Rot, tizianrot. Juden haben keine roten Haare, denken die Leute. Ich will nicht jüdisch aussehen. Die Kopfhaut brennt, es tut weh, aber ich will unbedingt anders aussehen. Ich bin nicht die Margot Bentheim von gestern. Diese Margot darf es nicht mehr geben. Ich bin untergetaucht. Das war der Anfang von einem Jahr und drei Monaten, wo ich untergetaucht bin. Ich bin zu Freunden gekommen an diesem Abend, zu Siggi Hirsch und seiner Schwester, weil ich durch die Straßen gegangen bin. Ich könnte doch nicht auf der Bank bleiben, ich würde doch erfrieren.

So habe ich die erste Nacht bei jüdischen Freunden übernachtet. Ich kann so furchtbar schlecht sehen, das blendet so stark. Die Nachricht, die meine Mutter mir sandte, stand nicht auf einem Zettel: "Versuche dein Leben zu machen". Ich schlief kaum in dieser Nacht. Das war ein Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Als es Morgen wurde, war ich hellwach. Alles, was in der letzten Nacht geschehen war, stand mir plötzlich gar vor Augen. Ich musste handeln. Ich musste bald das Haus meiner Freunde verlassen. Die Abholungen fanden immer morgens gegen sechs Uhr statt, inzwischen täglich, und niemand wusste, wer an diesem Tag auf der Liste stand. Siggi Hirsch und seine Schwester verließen die Wohnung. Sie gingen in die Fabrik zur Zwangsarbeit. Wir verabschiedeten uns. "Bis heute Abend." In dieser Zeit bekam dieser Satz ganz andere Bedeutung. "Bis heute Abend hoffentlich." Ich vertrieb mir den frühen Morgen auf den Straßen. Die Leute waren auf dem Weg zur Arbeit. Alle wirkten so beschäftigt. Sie hatten einen Ort, in dem sie erwartet wurden. Zu wem konnte ich gehen? Wer konnte mir helfen? Ich kannte doch nur Juden.

Plötzlich fiel es mir ein Tante Anna. Anna, ihre Tochter Marion war nur einen Monat älter als ich. Vielleicht würde sie mich verstehen. Ich kannte Tante Anna nicht besonders gut. Eine schmale, blonde Frau mit einem schmalen Mund, die nicht viel redete. Die Familie war immer fremd geblieben vielleicht nicht nur, weil sie Christin, sondern auch, weil sie keine Deutsche war. Tante Anna kam aus der Schweiz. Doch genau das konnte mir jetzt nützen. Als Schweizer Staatsbürgerin hatte sie weniger zu fürchten, wenn sie mir half. Vielleicht könnte sie mich verstecken. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich an ihrer Türe klingelte. Tante Anna öffnete. Als sie mich sah, brachte sie vor Überraschung kein Wort heraus und vergaß mich hinein zu bitten. So blieben wir einfach in der Türe stehen. "Du bist in Berlin?", fragte sie dann. Ich nickte. "Ich dachte, ihr seid längst fort, in Schlesien." "Sie haben sie abgeholt. Meine Mutter und Ralph." Anna zuckte zusammen. "Komm rein", sagte sie dann. "Ich erzähl dir, was geschehen war, in allen Einzelheiten, ohne Pause." Je klarer ich alles aussprach, desto deutlicher wurde mir, in welcher Not ich war.

Ich hatte nur diese eine Chance. Ich wollte, dass Tante Anna mich verstand. Aber es war nicht zu erkennen, ob sie bewegt war oder traurig, während ich sprach. Vielleicht hoffte ich auf so etwas wie Mütterlichkeit. Sie hörte mich zu Ende an, ohne mich zu unterbrechen und Tante Annas Gesicht blieb regungslos. "Was hast du dir gedacht? Was soll ich für dich tun?", das war die Frage, auf die ich gewartet habe. "Ich möchte untertauchen." Sie schüttelt leicht den Kopf, missbilligend, als hätte ich etwas sehr Albernes gesagt. "Und warum bist du dann hier?", fragte sie. Ich verstand ihre Frage nicht. Ich habe sonst niemanden. "Wie soll ich dir denn helfen?" "Ich brauche ein Versteck." "Wenn du nicht bereit bist, deiner Mutter zu helfen", sagte Anna, "dann kann ich dir auch nicht helfen." Ich verstand nicht, was sie damit meint. "Sie ist bei der Gestapo", sagte ich. "Ich kann nichts für sie tun. Wie soll ich ihr denn helfen?" "Indem du mit ihr gehst." Ich senkte den Kopf, als hätte Tante Anna mir einen Schlag versetzt. Ich hatte Trost erwartet, Mitleid.

Die ganze Zeit hatte ich gegen mein Schuldgefühl angekämpft. Jetzt sprach meine Tante genau das aus, was ich nicht denken wollte. "Du hast deine Mutter im Stich gelassen. Du hast zugelassen, dass sie allein zur Gestapo ging. Du hattest nicht den Mut, dasselbe zu tun wie sie." Ich stand auf. Jetzt merkte ich, dass ich die ganze Zeit auf unserem blauen Sofa gesessen hatte. Anna hat es in ihr Wohnzimmer gestellt, gleich nachdem sie es bei uns abgeholt hatte. Es sah aus, als habe es schon immer hier gestanden. Ich schaute Tante Anna nicht mehr an. Ich wollte ihr Gesicht nicht mehr sehen. Ich verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort. Ich ging zurück zu Siggi Hirsch und seiner Schwester. Sie waren zu Hause. Ein Tag war gewonnen abends, in der Wohnung bei Siggi und seiner Schwester noch einmal Glück gehabt! Beim Essen steckt mir Siggi ein zusammengefaltetes Stück Papier zu. "Das ist die Adresse", sagte er. "Merk sie dir und wirf den Zettel weg." Am nächsten Morgen verabschieden wir uns wieder einmal. Wir ahnen, dass es zum letzten Mal ist. Noch am Morgen verschwinde ich.

TOBIAS HAUCK: Vielleicht hören wir noch eine Stelle, Frau Friedländer.

MARGOT FRIEDLÄNDER: Eine Tür fällt zu, eine andere tut sich auf. Ein Leben ist zu Ende, ein neues fängt an. Ich bin bereit, in dieses neue Leben einzutauchen. Der Weg dorthin verschwindet im Nichts. Meine Schritte löschen sich aus noch während ich gehe. Was sind das für Leute, zu denen ich komme? Ich verstehe sie nicht, weiß nicht, was sie dazu treibt, mir zu helfen. Was wollen sie von mir? Was will ich von ihnen? Ich zweifle nicht an meinen Helfern. Sie sind alle gegen Hitler eingestellt, das weiß ich, aber sie sind nur Menschen, keine Helden. Es ist April. 15 Monate lebe ich schon im Untergrund. Meine letzte Stelle. Wir gehen zum Bunker am Zoologischen Garten wegen einem Fliegerangriff. Wir schaffen es gerade noch in den Bunker zu kommen. Nachdem wir wieder frei sind, verlassen wir den Bunker und machen uns auf den Weg nach Hause. Ich werde angesprochen, wir alle nach Papieren gefragt. Ich habe keine. Als ich gefragt werde, sage ich [...] Ich werde verhaftet und habe aber das Glück, nach Theresienstadt zu kommen.

In Theresienstadt angekommen, unterwarf ich mich völlig der Lagerroutine, wie jeder von uns. Im September 1944 begann sich das Lager zu lehren. Theresienstadt war wie ein groß angelegter Versuch, ein Experiment. Ich lebte für den Tag. Ich ließ mich treiben. Alles ging an mir vorüber, ohne mich wirklich zu berühren. Im Februar kamen die unsichtbaren Züge. Wir sahen sie nicht. Wir erfuhren davon durch Gerüchte. Es waren offene Güterwaggons, in denen Menschen lagen, die kaum mehr Menschen waren. Am 6. April besuchte Paul Dunant, als Vertreter des Roten Kreuzes, Theresienstadt. Diesmal wurde der Vertreter nicht von der SS, sondern von Leo Baeck durch das Lager geführt. Eines Tages fuhr ein Zug langsam in Theresienstadt ein. Es war in etwa um den 30. April 1945 herum. Zusammen mit vielen anderen war ich von meiner Arbeit fortgeholt und zum Bahnhof geführt worden. Wir sahen zu, wie der Zug einfuhr. Viehwaggons, eine endlose Reihe. Wir hatten keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.

Meter für Meter schob sich der Zug vor, bis er mit kreischenden Bremsen zum Stehen kam. Dann wurden die Waggontüren aufgeschoben. Sie fielen einfach raus oder wurden rausgestoßen. Menschen, die keine Menschen mehr waren. Viele waren schon tot und die Toten waren kaum von den Lebenden zu unterscheiden. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Wangen waren eingefallen, nur die Nasen stachen spitz aus dem Gesicht hervor. Die Menschen trugen eine Art gestreiften Pyjama, aber meist waren es nur noch Lumpen. Von den Nacken, Schultern und Armen hingen Fetzen, die einmal Jacken gewesen waren. Anstelle von Schuhen trugen sie Holzpantinen. Kaum jemand hat ein ganzes Paar Schuhe. Die meisten hatten nur einen, manche gar keinen an. Viele hatten Ödeme an den Beinen, die dadurch so dick angeschwollen waren, wie Elefantenbeine. Andere waren nur noch ein Gerippe. Etwas fiel mir in die Arme ein Mensch so schwach, dass ich ihn tragen konnte. Er war federleicht. Diese Menschen kamen aus Auschwitz.

Zum ersten Mal hörten wir diesen Namen. Jetzt erfuhren wir, dass auch die unsichtbaren Züge von dort gekommen waren. Damals war Auschwitz gerade befreit worden. Wir hatten davon nichts gewusst. Die Transporte, die jetzt eintrafen, bestanden aus Häftlingen, die die SS vor der Befreiung am 27. Januar auf einen Todesmarsch geschickt hatte. Sie SS unternahm alles, damit die Überlebenden uns nicht in die Hände fielen, die Alliierten vom argen Ausmaß der Vernichtung nichts erfuhren. Fast drei Monat waren die Menschen unterwegs gewesen, erst zu Fuß, in langen Kolonnen, es waren nur Männer, auch wenn sie auf den ersten Blick geschlechtslos wirkten. Viele waren krank. Sie hatten auf der einen Tag langen Güterwaggonfahrt Typhus bekommen. Viele hatten es nicht überlebt, aber es waren immer noch Hunderte, die uns entgegenfielen. In diesem Moment bekam der Osten seinen Namen. In diesem Moment erfuhren wir von den Todeslagern. Und in diesem Moment begriff ich, dass ich meine Mutter und meinen Bruder nicht wieder sehen würde.

Es war unbegreiflich, dass überhaupt jemand von ihnen überlebt hatte. Jetzt hatte ich keine Hoffnung mehr, dass er mir hilft, dass es ihnen gelungen war zu überleben. Bisher hatte ich noch immer gehofft, dass es meine Mutter und mein Bruder geschafft haben könnten. Ich wollte überleben, weil ich meine Familie wiedersehen wollte. Was war mein Überleben jetzt noch wert? Nun hatte der Osten nicht nur einen Namen bekommen, sondern auch ein Gesicht. Eins, das nicht mehr menschlich und nicht mehr lebendig war. Wie unvorstellbar muss der Schmerz meiner Mutter und meines Bruders gewesen sein? Als wir nur wenige Minuten nach ihrer Ankunft in Auschwitz auseinandergerissen wurden, gab es noch eine letzte Umarmung, einen letzten Blick von Ferne. Wie viel Zeit blieb meiner Mutter für ihre letzten Gedanken? Haben sie beide gewusst, dass sie einander nicht wiedersehen werden? Dass das Opfer der Mutter, mit ihrem Sohn zu gehen, umsonst war? Auch die Ungewissheit darüber, was aus mir geworden ist, muss für meine Mutter ein schrecklicher Schmerz gewesen sein.

Ich war doch auch ihr Kind. Diese Gedanken kehren immer wieder, verlassen mich nie. Mein innerer Kampf mit dem Schuldgefühl als Überlebende, der Schmerz über dieses Schicksal meiner Familie beides begleitet mich mein Leben lang und kostet mich viel Kraft. Sie wissen, ich habe nach der Befreiung Herrn Friedländer geheiratet, noch im Lager. Wir waren ein Jahr im DP-Camp und sind dann nach Amerika gegangen, wo ich 64 Jahre gelebt habe. 2003 bin ich, nach 57 Jahren, zum ersten Mal wieder nach Berlin, meine Heimat, gekommen. Mit 88 Jahren, 2010, bin ich für immer nach Berlin zurückgekommen. Wenn ich zu jungen Menschen spreche und ihnen sage, warum ich zurückgekommen bin, ich werde es euch erzählen. Ich bin zurückgekommen, um euch die Hand zu reichen, euch zu bitten, die Zeitzeugen zu sein, die wir nicht mehr lange sein können. Was geschehen war, das war geschehen. Wir können es nicht mehr ändern, aber es darf nie wieder geschehen für euch. Ihr habt es in der Hand, euer Leben zu machen.

Mein Bruder, der 17,5 Jahre alt war und in Auschwitz umgekommen war, hatte nicht die Chance, die ihr habt. Schmeißt es nicht weg. Ihr lernt für euch und für eure Zukunft. Es ist wichtig. Ihr seid Menschen. Damals haben Menschen es getan, weil sie Menschen nicht anerkennen als Mensch. Ihr seht so nett aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von euch jemals seine Hand dafür geben würde, das zu machen. Ich kann euch nur sagen, wir sind alle gleich Menschen. Es gibt kein christliches, kein muslimisches, kein jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Menschen sind Menschen und müssen Menschen nicht unbedingt lieben, aber Menschen müssen akzeptiert werden. Alle Menschen, ganz egal welche Hautfarbe oder welche Religion sie haben oder woher sie kommen es sind Menschen. Respektiert Menschen, das ist das Wichtigste.

TOBIAS HAUCK: Liebe Frau Friedländer, ich hoffe, Sie verstehen mich gerade gut. Danke, dass Sie hier sind. Sie haben gerade Begegnungen geschildert, die sehr, sehr unterschiedlich waren. Begegnungen mit anderen Menschen können beängstigend sein, sie können beglückend sein, sie können der Horror sein. Heute begegnen sie jungen Leuten aus verschiedenen Schulen in Berlin von der Katholischen Marienschule in Potsdam, dem John-Lennon-Gymnasium, der Nelson-Mandela-Schule, dem Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn, dem Walther-Rathenau-Gymnasium und dem Dathe-Gymnasium. Außerdem haben Sie hier heute die Gelegenheit, noch zu sprechen mit Studierenden der Freien Universität und der Humboldt -Universität und mit Kindern von Kolleginnen und Kollegen hier aus dem Bundesministerium der Finanzen. Danke, dass Sie uns heute Ihre Aufmerksamkeit so geschenkt haben. Und ich würde jetzt gerne noch zwei Fragen aus dem Publikum drannehmen. Ich werde ausschließlich jungen Leuten den Vortritt lassen und möchte dafür auch meine Kollegin Anna schon mal in Stellung bringen und möchte euch jetzt bitten, euch zu melden, wenn ihr eine Frage an Margot Friedländer habt. Bitte stellt euch auch kurz vor, woher ihr kommt und wer ihr seid.

PUBLIKUM: Ich bin Ben vom John-Lennon-Gymnasium.

ANNA GEUCHMANN-BAKAL: Und deine Frage?

PUBLIKUM: Wie war es für Sie, als Sie dann zurück nach Deutschland kamen?

MARGOT FRIEDLÄNDER: Wie war es, als ich das erste Mal hergekommen bin? Ich bin die Straßen gegangen, die ich gut kannte. Ich habe gesagt, ich bin so froh, in einer so schönen Stadt geboren zu sein. Innerlich habe ich gedacht, wenn ich, das war 2003, wenn ich jünger wäre, würde ich es mir überlegen. 2010, sieben Jahre später, habe ich es gemacht. Ich bin 2010 zurückgekommen. Seitdem lebe ich hier.

PUBLIKUM: Guten Tag! Mein Name ist Benedikt von Posa und ich komme von der Katholischen Marienschule. Meine Frage ist, haben Sie jemals Gerechtigkeit gefordert, für das, was Ihnen, Ihrer Familie und Ihren Glaubensbrüdern und -schwestern angetan wurde?

MARGOT FRIEDLÄNDER: Von wem soll ich Gerechtigkeit fordern? Was war, können wir nicht mehr ändern, wie ich gesagt habe, aber es darf nie wieder geschehen. Wir in Berlin, die Regierung, versucht sehr wunderbar darüber zu sprechen und dass die Demokratie weitergeleitet wird, dass wir dabei bleiben, dass besonders eben die jungen Menschen sich darüber klar sein müssen, was gewesen ist und dass sie Menschen sind und es ist ja für sie, dass so was nie wieder geschehen darf für die Jugend, für ihre Zukunft. Ich kanns nicht anders sagen.

TOBIAS HAUCK: Eine dritte Frage nehmen wir noch. Ich gehe zu dir direkt.

PUBLIKUM: Hallo. Ich bin Mattheo, auch aus dem John-Lennon-Gymnasium. Und meine Frage ist: Haben Sie Siggi jemals wiedergesehen oder Ihre Freunde, die Ihnen geholfen haben? Oder war das der Abschied, als Sie in den Untergrund gegangen sind oder dann auch in das Lager?

MARGOT FRIEDLÄNDER: Sie meinen die, die mir geholfen haben im Untergrund? Nur die letzte, Frau Camplea, mit der ich korrespondiert habe und die auch einen Ehrensold bekommen hat, solange sie gelebt hat. Mit ihrer Nichte, Gretchen, die ja bei ihnen gelebt hat, habe ich korrespondiert, als ich schon in Amerika war. Wir haben sie zweimal in der Schweiz getroffen. Sie hat noch gelebt, als ich 2zum ersten Mal nach Berlin kam. Sie war aber sehr krank und im Spital. Dieser Thomas Halaczinksy, der mich nach Berlin nehmen wollte und verantwortlich war, weil er einen Film machen wollte, einen Dokumentarfilm, der 2005 hier gezeigt wurde "Don't call it Heimweh". in diesem Film, ist die Begegnung mit Gretchen drin. Sie war, als ich 2010 für immer zurückgekommen bin, schon tot.

TOBIAS HAUCK: Wir würden noch eine weitere Frage dran nehmen.

PUBLIKUM: Hallo, ich bin Thaddäus Wernicke, auch von der Katholischen Marienschule Potsdam. Und ich habe mich gefragt, ob es, als es zu diesen Zeiten der Ermordung der Juden kam, eine Hoffnung in Ihnen gab, die sagte, dass es eines Tages alles wieder gut werden würde? Und wenn ja, wie lange Sie sich die Zeit vorgestellt haben, bis diese Hoffnung dann zur Wahrheit wird?

MARGOT FRIEDLÄNDER: Nach der Befreiung, als ich erfahren habe, was der Osten wirklich ist, hatte ich ja die Hoffnung in Theresienstadt immer, dass das vielleicht auch so ist, wo meine Mutter und mein Bruder hingekommen sind. Erst, als die Züge ankamen nach Theresienstadt aus Auschwitz und wir erlebt haben, was der Osten ist, war es für mich erst der Moment, wo ich die Hoffnung aufgegeben hatte, meine Mutter und meinen Bruder zu sehen. Ich hatte doch dann großes Glück, Herrn Friedländer zu haben, der mich dann gefragt hat, ob ich mir vorstellen könnte, ein neues Leben mit ihm in Amerika zu machen, wo er dasselbe erlebt hat, wie ich. Er hat auch seine Mutter in Auschwitz verloren und dann war mir klar, dass ich ein Leben vor mir habe, was vorher sehr fraglich war nach der Befreiung, wo wir gewusst haben, wir sind ohne Angehörige, wir waren jung, wir hatten ja wenig bis jetzt gelernt. Aber ich muss unbedingt sagen, dass ich großes Glück hatte. Das Gefühl, dass ich was machen kann, besonders mit jungen Menschen, hat mir ein Leben gegeben. Das war das, was mich mit 101 Jahren hält, dass ich noch etwas tun kann, im Andenken an die, die es nicht geschafft haben. Ich spreche ja nicht nur für die sechs Millionen, sondern ich spreche für alle Menschen, die umgebracht wurden. Menschen, die Menschen waren. Nur weil sie nicht an Hitler geglaubt haben, waren es Menschen. Menschen haben es getan, die keine Menschen sind für meine Begriffe. Und das werde ich immer wieder jungen Menschen sagen: "Seid Menschen!".

TOBIAS HAUCK: Viele Fäden wurden damals zerrissen. Sie haben neue Fäden wieder gesponnen, aufgenommen und beibehalten. Vielen Dank, Frau Friedländer. Zum Abschluss möchte ich den Bundesminister der Finanzen noch mal kurz auf die Bühne bitten und danach gibt es noch ein paar weitere Informationen von uns.

CHRISTIAN LINDNER: Liebe Frau Friedländer, Sie haben berichtet, dass Sie Ihre Mutter und Ihren Bruder und viele andere liebe Menschen verloren haben. Was mich besonders betroffen gemacht hat, ist, dass Sie danach berichtet haben von den Schuldgefühlen, die Sie hatten, weil Sie überlebt haben. Schuldgefühle zu haben wegen des Überlebens, das zu hören, tut besonders weh. Und welche Stärke muss ein Mensch haben, dann sein Leben zu machen mit diesem Gefühl der Schuld? So eine zarte Person und so eine starke Seele. Sie haben berichtet von Shoa, Massen- und Völkermord, von Krieg und Gewalt. Das ist für uns Geschichte, für die Anwesenden hier eine Geschichte unserer Urgroßeltern oder Großeltern. Für Sie ist es Ihr Leben. Sie haben berichtet damit über Wahrheit. Sie sind eine Zeitzeugin, aber dadurch, dass wir alle Sie heute erlebt und erspürt haben, dadurch sind wir auch alle Zeuginnen und Zeugen der Wahrheit geworden. Und können deshalb die Verantwortung auch weitertragen.

Das, was geschehen ist, das kann man nicht ungeschehen machen. Und dafür gibt es auch keine abschließende Gerechtigkeit im Diesseits. Aber wir können die Verantwortung übernehmen. Keiner von euch Jüngeren, auch ich nicht, der ich etwas älter bin, wir tragen nicht individuell Schuld für das, was damals passiert ist in deutschem Namen oder von Deutschen. Das kann man nicht ungeschehen machen. Dafür gibt es auch keine abschließende Gerechtigkeit. Und wir individuell tragen keine Schuld. Aber wir haben eben eine Verantwortung: ihr, genauso wie ich, wie wir alle. Nämlich die Verantwortung, Margot Friedländer und anderen das eine und wichtigste Versprechen zu geben: nie wieder. Und dieses "nie wieder" beginnt im Kleinen und Kleinsten unseres Alltags. So, wie Sie, liebe Frau Friedländer, es ja auch geschildert haben. Es beginnt im Kleinen, nämlich in dem Respekt gegenüber anderen menschlich zu sein. Nicht zu schweigen, wenn sie oder er in der Klasse Opfer von Mobbing wird.

Oder wenn Menschen beurteilt werden aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Religion oder weil sie sich anders benehmen als wir. Da zu schweigen, bedeutet in Wahrheit, zuzustimmen. Da ist der Anfang. Wer nie wieder ernst nimmt, der schweigt nicht, wenn jemand ausgegrenzt oder diskriminiert wird. Am Anfang ist es nur Ausgrenzung, am Anfang war es auch damals nur das Wort von Hitler. Und am anderen Ende standen Gewalt, Mord und Shoa. Und deshalb unsere Verantwortung heute, unsere Verantwortung gegenüber den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und allen Opfern ist "nie wieder". Und in jedem unserer Tage den Unterschied zu machen. In diesem Sinne, liebe Frau Friedländer, vielen Dank, dass Sie hier heute bei uns waren. Und wir wünschen Ihnen alles Gute, dass wir Sie noch ganz oft bei diesen Gelegenheiten erleben und erspüren dürfen. Vielen Dank!