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09.09.2023

Öffentliche Finanzen

Bundesfinanzminister Christian Lindner im Interview mit der Welt am Sonntag

Bundesfinanzminister Christian Lindner im Interview: „Wir müssen unterscheiden zwischen großen Lebensrisiken, die wir solidarisch absichern, und den anderen Lebenssituationen, die Eigenverantwortung fordern.”

  • Datum 09.09.2023

Welt am Sonntag: Herr Lindner, der Kern der Demokratie ist der Streit um das bessere Argument und die Mehrheit. Sie haben das bei der Regierungsklausur in Meseberg als „Hämmern und Bohren“ umschrieben. Dem Kanzler gefällt das nicht, er sieht im Streit einen Grund für die erodierende Zustimmung zur Ampel-Regierung. Ist das ein Dilemma?

Christian Lindner: Die Demokratie lebt von Unterschieden, sonst wäre die freie Wahl sinnlos. Ich werde den Grünen gewiss keinen Vorwurf daraus machen, wenn sie ihre Orientierung an Gleichheit und einem lenkenden Staat auch in der Regierung vertreten. Dafür wurden sie gewählt. Umgekehrt steht die FDP für das Vertrauen auf Eigenverantwortung und Freiheit und darauf, dass zunächst einmal im gesellschaftlichen Miteinander eine Lösung gefunden werden sollte, bevor der Staat gerufen wird. Bislang ist es gut gelungen, am Ende zu einem für das Land tragfähigen Kompromiss zu finden.

Welt am Sonntag: Die frühere Kanzlerin Angela Merkel war eine Meisterin der Streitvermeidung, hat daraus das Konzept der asymmetrischen Demobilisierung gezimmert – und ist so dreimal wiedergewählt worden. Sind die Deutschen des Streits entwöhnt?

Christian Lindner: Damals wurde gesagt, der Stil von Frau Merkel mache die Ränder stark. Ich rate uns, reale Probleme zu lösen. Viele Menschen teilen meinen Eindruck, dass in Deutschland zu lange wirtschaftliche Vernunft und das technisch Machbare vernachlässigt wurden, weil man sich Wunschdenken hingegeben oder Probleme mit Geld zugeschüttet hat. Der ursprüngliche Entwurf des Heizungsgesetzes wurde dafür leider zu einem weiteren Symbol dessen, wie es Jahre lief. Da musste eine Kehrtwende erreicht werden. Das gute Anliegen, die Wärmeversorgung langfristig klimaneutral zu gestalten, erreichen wir jetzt, ohne dass die Bürgerinnen und Bürger Angst um ihr Eigentum haben müssen.

Welt am Sonntag: Hat sich der Streit um das Heizungsgesetz aus Ihrer Sicht gelohnt?

Christian Lindner: Ja. Wir sollten aus dem Prozess aber lernen. Das Gesetz selbst ist nun praxistauglich. Jetzt gibt es eine Verbindung zur kommunalen Wärmeplanung. Es ist offen für alle Technologien, verzichtet auf Verbote und hat einen realistischen Zeitplan.

Welt am Sonntag: Eine Studie des Rheingold-Instituts stellt eine „tiefe Resignation gegenüber der Politik und unseren Zukunftsmöglichkeiten“ fest, die „unser nationales Zusammenleben bedroht“. Befördern Sie mit einer Regierung, die nach Wahrnehmung der Bürger zerstritten ist, den Aufschwung der AfD?

Christian Lindner: Mein Zugang ist, weniger über die AfD, dafür mehr über unsere gemeinsamen Aufgaben zu reden. Gerade bei der Kontrolle von Zuwanderung nach Deutschland haben wir Fortschritte gemacht. Wir dürfen hier aber nicht nachlassen, denn die Zahlen sind so nicht dauerhaft durchhaltbar. Mehr sichere Herkunftsländer, wirksame Abschiebung, Schutz der EU-Außengrenze, Asylverfahren vom Ausland aus und so weiter. Was rechtlich möglich ist, um irreguläre Migration zu unterbinden, sollte politisch eingeleitet werden. Die Menschen haben zuweilen das Gefühl, dass dieser Staat zwar über ausreichend Finanzmittel verfügt, aber in vielen Bereichen seine Aufgaben nicht so erfüllt, wie man das erwartet. Wir sind nun dabei, das zu korrigieren. Das geschieht zuweilen geräuschvoll, aber es geschieht.

Welt am Sonntag: Eines dieser Geräusche erzeugt die Diskussion über den Industriestrompreis zur Dämpfung der Energiekosten. SPD und Grüne möchten ihn einführen, die FDP nicht. Wie lässt sich das zusammenführen?

Christian Lindner: Ich bin nicht davon überzeugt, für einige wenige Konzerne den Strompreis auf Kosten von allen Steuerzahlern zu subventionieren. Zumal dann nur bestimmte Energieverbraucher weiter günstig Energie nutzen und damit das knappe Angebot für andere potentiell verteuern. Wir brauchen eine Lösung ohne Wettbewerbsverzerrung. Wir müssen schnell neue Energie-Erzeugungskapazitäten schaffen und dürfen nicht ideologisch auf bestehende Kraftwerke verzichten. Das immer weitere Vorziehen von Terminen etwa bei der Kohle würde Preis und Versorgungssicherheit gefährden, wenn es nicht rechtzeitig und verlässlich Ersatz gibt.

Welt am Sonntag: Das bringt aber keine schnelle Hilfe für ernergieintensive Unternehmen.

Christian Lindner: Ich hätte mir diese Debatte gewünscht, als 30 Terrawattstunden günstiger und klimafreundlicher Strom aus Kernenergie gegen unseren Rat abgeschaltet wurden. Das Problem leugne ich nicht. Aber eine Lösung, die Schulden auf die Gemeinheit abwälzt und den Wettbewerb zu Lasten des Mittelstands verzerrt, ist keine. Wir müssen erleichtern, dass Großverbraucher Strompartnerschaften mit Erzeugern schließen. Das ist ein marktwirtschaftlicher Zugang. Auch die Erleichterung von Investitionen, die Energieeffizienz erhöhen, ist sinnvoll. Eine staatliche Subventionierung von Betriebskosten sehe ich aber kritisch. Beim Preis selbst können wir allerdings über das nachdenken, was Energie politisch verteuert.

Welt am Sonntag: Was schlagen Sie konkret vor?

Christian Lindner: Der so genannte Spitzenausgleich, durch den Großverbrauchern die Stromsteuer erstattet wird, läuft als so genannte klimaschädliche Subvention aus. Der Bundestag könnte beraten, ihn ein weiteres Jahr zu verlängern, wenn man woanders Mittel zur Gegenfinanzierung findet. Mir behagt in der Diskussion die Grundrichtung ansonsten nicht. Auf eine staatliche Intervention – die politische Verknappung durch Abschalten von Kohle und Kernenergie auch durch CDU-Regierungen – folgt zur Abfederung der negativen Nebenwirkung die nächste staatliche Intervention. Diese Abfolge führt weg von einem marktwirtschaftlich verfassten Gemeinwesen.

Welt am Sonntag: Schon 2010 warnte der damalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle vor „anstrengungslosem Wohlstand“. Was hätte er zu der anstehenden Erhöhung des Bürgergelds um zwölf Prozent gesagt?

Christian Lindner: Dass sie sich aus der Entwicklung der Preise ergibt und das Existenzminimum gesichert sein muss. Aber dasselbe ergibt sich für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Konkret werden wir den Grundfreibetrag um 180 Euro auf 11.784 Euro erhöhen und den Kinderfreibetrag um 228 Euro auf 6.612 Euro. Das ist eine weitere steuerliche Entlastung der Menschen um fast zwei Milliarden Euro. Das ist rechtlich zwingend, aber auch moralisch geboten. Die arbeitende Mitte darf generell nicht den Eindruck gewinnen, dass sie mit ihren Interessen und Wünsche vergessen wird. Mehr noch, wichtig ist für mich, dass wir Menschen aus dem Sozialstaat in den Arbeitsmarkt bringen. Ich bin besorgt wegen der Sozialquote, die wir inzwischen im Bundeshaushalt haben. Wir haben zu viele Menschen, die arbeiten könnten, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht arbeiten. Das beginnt bei mangelnden Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder, geht über Qualifikationsfragen und endet bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen. Wir werden aber nüchtern prüfen, ob der Abstand zwischen Sozialtransfers und Arbeitseinkommen groß genug ist. Da geht es nicht um den Populismus, den ich teils aus der Opposition höre, sondern um Fakten und Fairness. Eine Untersuchung der Regierung kommt und wird auf Konsequenzen beraten.

Welt am Sonntag: Sie haben gesagt, dass sie als Finanzminister nicht mit einer so starken Erhöhung des Bürgergeldes im nächsten Jahr gerechnet hatten. Warum nicht?

Christian Lindner: Die Lohn- und Preisentwicklung ist eine andere als noch im Frühjahr amtlich prognostiziert.

Welt am Sonntag: Welche Auswirkungen hat die Bürgergelderhöhung für die Kosten der Kindergrundsicherung?

Christian Lindner: Dazu liegen noch keine Zahlen vor. Allerdings ist zu bedenken, dass es keine generellen Leistungsausweitungen durch die Kindergrundsicherung gibt. Gegenüber dem Status quo ist der Vorteil nicht der höhere Sozialtransfer, sondern zum Beispiel die unbürokratische Auszahlung dessen, worauf arbeitende Familien ein Recht haben, es aber nicht wissen.

Welt am Sonntag: Sie sprachen in Zusammenhang mit der Kindergrundsicherung von der letzten „größeren Sozialreform, die noch in den Haushaltsplan passt“. Für was genau ist kein Geld mehr da?

Christian Lindner: Ich höre viele Ideen, was alles noch passieren könnte. Deshalb habe ich vorsorglich gesagt: Im Bundeshaushalt sind keine Reserven für strukturelle und dauerhafte Mehrausgaben.

Welt am Sonntag: Wird die Regierung das schon lange angekündigte Rentenpaket deshalb nicht mehr vorlegen?

Christian Lindner: Im Gegenteil, das Rentenpaket hat ja einen anderen Charakter. Auf der einen Seite schreiben wir zwar das Rentenniveau dauerhaft bei 48 Prozent fest. Auf der anderen Seite führen wir das Generationenkapital ein, einen staatlichen Fonds, der Geld an den Kapitalmärkten anlegt, um die Beitragsentwicklung ab den dreißiger Jahren zu dämpfen, also die Beschäftigten zu entlasten und letztlich auch den Bundeshaushalt.

Welt am Sonntag: Aber eine dauerhafte Haltelinie bei 48 Prozent wird angesichts der steigenden Rentnerzahlen in den kommenden Jahren wahrscheinlich sehr teuer für den Staat.

Christian Lindner: Richtig ist, dass wir davon ausgehen, dass Fachkräfteeinwanderung, Aktivierung von nicht arbeitenden Menschen, Überwindung ungewollter Teilzeit und die Attraktivierung längeren Arbeitens für Ältere gelingen. Diese Annahmen für die Entwicklung des Arbeitsmarktes und die Performance des Generationenkapitals werden wir zu definierten Zeitpunkten prüfen.

Welt am Sonntag: Die Haltelinie wird also nicht dauerhaft bei 48 Prozent liegen, sondern befristet?

Christian Lindner: Die Haltelinie soll dauerhaft dort liegen. Dafür müssen wir aber auch dauerhafte Voraussetzungen erwirtschaften.

Welt am Sonntag: Nach wie vielen Jahren halten Sie eine Überprüfung für notwendig?

Christian Lindner: Warten Sie den Gesetzentwurf bitte ab. Mir ist auch dabei wichtig, dass wir der Goldstandard der Staatsfinanzierung bleiben. Trotz der hohen Kreditaufnahme in den vergangenen Krisenjahren genießt Deutschland weiterhin hohes Vertrauen bei Ratingagenturen und Investoren. Das dürfen wir nicht gefährden. Das AAA-Rating hat schließlich positive Auswirkung nicht nur auf die Zinsausgaben des Bundes, sondern bis hinunter auf einzelne Gemeinden und ihre Finanzierungsbedingungen.

Welt am Sonntag: Sie wollen sparen, SPD und Grüne drängen eher auf milliardenschwere Investitionen.

Christian Lindner: Weniger Schulden zu machen ist kein persönliches Anliegen von mir, sondern es ist ein Gebot ökonomischer Klugheit. Wir müssen die Inflation bekämpfen und dürfen nicht immer neue Schulden anhäufen. Das würde die Inflation anheizen. Dennoch gibt es kein Defizit an öffentlichen Investitionen. Im nächsten Jahr stehen insgesamt 112 Milliarden Euro bereit. Das ist ein absoluter Rekordwert.

Welt am Sonntag: Dennoch wird es aus Ihrer Sicht nicht ohne Einschnitte gehen. Wann erklären Sie den Bürgern, dass der Staat sie nicht dauerhaft vor allen finanziellen Risiken des Lebens bewahren kann?

Christian Lindner: Das sage ich jeden Tag. Wir müssen unterscheiden zwischen großen Lebensrisiken, die wir solidarisch absichern, und den anderen Lebenssituationen, die Eigenverantwortung fordern. Allerdings beziehe ich das auch auf die Wirtschaft. Strukturbrüche wie bei Corona muss der Staat verhindern, aber Unternehmerinnen und Unternehmer können nicht vor einem schlechten Geschäftsjahr durch den Steuerzahler geschützt werden. Ich habe Respekt und keinerlei Neid bei unternehmerischem Profit, aber der Erfolg sollte nicht in der Nähe des Staatshaushaltes gesucht werden, sondern im Wettbewerb im Markt. Durch die Coronapandemie und den Energiepreisschock können wir uns keine Mentalitätsveränderung auf Dauer erlauben.

Welt am Sonntag: Denken Sie bei den Unternehmern eher an Halbleiterhersteller oder Restaurantbetreiber?

Christian Lindner: Die Milliardensubventionen für die Halbleiterbranche hat schon eine Vorgängerregierung eingeleitet.

Welt am Sonntag: Wie sieht es mit der Forderung von Gastronomen aus, den Mehrwertsteuersatz auf Speisen über das Jahresende hinaus bei sieben Prozent zu belassen?

Christian Lindner: Ich persönlich habe Sympathie. Aber darüber wird der Haushaltsgesetzgeber, also das Parlament, im Lichte der Steuerschätzung im November entscheiden.

Welt am Sonntag: Wie passt das zu dem Vorhergesagten, dass Unternehmer nicht immer nach dem Staat rufen können, wenn ihr Geschäft schlecht läuft.

Christian Lindner: Hier geht es eher um die Preise, die die Gäste zahlen würden.

Welt am Sonntag: In dem Fall wohl eher an den Wählerinnen und Wählern.

Christian Lindner: Für die Wählerinnen und Wähler ist es entscheidend, dass die Balance insgesamt stimmt. Ich bin überzeugt, dass die Menschen sich nicht durch einzelne Maßnahmen beeindrucken lassen.

Welt am Sonntag: Apropos, wird die Bundesregierung jemals das Klimageld auszahlen, das den Menschen als Ausgleich für den steigenden CO2-Preis auf Treibstoff versprochen wurde?

Christian Lindner: Ja. Voraussichtlich im kommenden Jahr gibt es die technische Möglichkeit. Der Gedanke während der Koalitionsverhandlungen war, in dieser Wahlperiode den Mechanismus zu schaffen und in der kommenden mit einer Auszahlung zu beginnen.

Welt am Sonntag: Das wäre erst 2026.

Christian Lindner: Ob es früher als 2026 oder später ist, kann ich gegenwärtig nicht sagen. Dazu gibt es noch keine abgestimmte Planung der Bundesregierung.

Welt am Sonntag: Kommen wir zum zweitgrößten Posten Ihres Haushalts nach Arbeit und Soziales, dem der Verteidigung. In der Koalition gibt es Streit, ob die NATO-Quote von zwei Prozent tatsächlich Jahr für Jahr erreicht werden muss. Können Sie das überhaupt ohne immer neue kreative Ansätze, wie die Hinzurechnung von milliardenschweren Zinsausgaben auf Sondervermögen und Bundesschulden?

Christian Lindner: Ja, die Zwei-Prozent-Quote erreichen wir. Wir müssen in Sicherheit und Freiheit investieren, indem wir die Wehrhaftigkeit unseres Staates verbessern. Dabei berücksichtigt das Verteidigungsministerium wie alle unsere Verbündeten alle Ausgaben, die in einem Kontext dazu stehen. Fragen Sie gerne dort nach.

Welt am Sonntag: Die halten das wie Sie geheim.

Christian Lindner: Manche Feuerwehr wird anderswo auf das NATO-Ziel angerechnet. Aber jenseits dessen: Das Erreichen des Zwei-Prozent-Ziels nach Auslaufen des Sonderprogramms für die Bundeswehr ist und bleibt ein enormer Kraftakt. 2028 haben wir außerdem Tilgungsverpflichtungen von Corona-Schulden. Insgesamt haben wir einen gewaltigen Handlungsbedarf im zweistelligen Milliarden-Euro-Bereich.

Welt am Sonntag: Warum schreiben Sie in Ihre mittelfristige Finanzplanung nicht jetzt schon schrittweise höhere Verteidigungsausgaben hinein – wenn Sie doch selbst sagen, dass sich nach Aufbrauchen des Sondervermögens eine riesige Finanzierungslücke auftut?

Christian Lindner: Das Sonderprogramm habe ich ja gerade deshalb vorgeschlagen, weil ein Umsteuern des Bundeshaushaltes selbst so schnell nicht möglich ist. Die neue Schwerpunktsetzung müssen wir uns erarbeiten. Durch eine Stärkung der Wirtschaftskraft und durch den Verzicht auf andere Staatsausgaben.